TRANSFORMATIONEN:
Konflikte bei „Ästhetik(en) des Widerstands“
und das Für-Etwas-Stehen (3)
01.10. 2025 ca. 57 min. Lesezeit
Aufgrund der erneuten Länge dieses Eintrags hier
ein kurzer Überblick zu den einzelnen Abschnitten:
Einleitende Worte (4,5min)
Transformationen Palermos (1) und Kabuls (2) (2,5min)
kurzer Exkurs nach San Francisco (5min)
Fremd- und Selbstbestimmung
Nach den Transformationen Palermos (1) und Kabuls (2) (19min)
Das Kleine im Großen und Ganzen (7min)
Überlagerungen kennzeichnen hier einmal mehr historische und damit auch in gewissem Sinne evolutionäre Prozesse. Die daraus resultierenden Konflikte wiederum zeigen sich zumeist an den Abbruchkanten des Bestehenden. Transformationen indes als zeitliche Prozesse erfordern den genaueren Blick auf das, was im Raum dabei geschieht. Das Für-Etwas-Stehen wiederum vereinigt Optimismus und (Zweck-) Pessimismus zu einer möglichst realistischen Haltung gegenüber den Menschen und Dingen und ihren jeweiligen Interaktionen.
„Ästhetik(en) des Widerstands" 1 suchen dabei, den Raum in seinen zeitlichen Durchdringungen und Transformationen besser zu verstehen. Und dies eben auch zu vermitteln. Die jeweiligen historischen Kontexte werden dabei ins Licht der Gegenwart gezogen und erhellt. Auch, um ein besseres Verständnis der Dinge und der darin handelnden oder verharrenden Menschen zu erreichen. Der Motive also für Tun und Lassen. Jetzt und zu vergangenen Zeiten und ihren Um- und Abbrüchen. Um- und Abbrüche, die auch temporäre Durchbrüche zu sein vermögen. Die aber zumal den ungeschriebenen Gesetzmäßigkeiten und Regeln aller Transformationen und Konflikte unterworfen sind. Und somit denn auch nicht linear abzulaufen vermögen. Sondern eher schubweise verlaufen und mit massiven Formen der Gegenwehr punktuell und dann auch wieder frontal breitflächig konfrontiert sind.
Anthropogene Wirksamkeiten und Unwirksamkeiten wiederum bezeugen da noch einmal mehr die feinen, aber entscheidend herauszuarbeitenden Unterschiede zwischen Natur und Kultur. Was ist also „vom Menschen gemacht“, unmittelbar und unwillkürlich und was obliegt Veränderungen und Prozessen, die jenseits menschlicher Einflussgrößen geschehen? Was folgt aus welcher (Un-) Tätigkeit des / der Menschen und was folgt aus welchen natürlichen physikalisch klaren Prozessen? Die Henne-Ei-Frage taucht dabei also einmal mehr auf. Größe und Gewalt massenhaft produzierter menschlicher Einflussgrößen und damit evozierte Verantwortlichkeiten erschrecken immer wieder neu. Gleichwohl gilt es dabei, dieses lähmende Entsetzen zu überwinden und (Handlungs-) Optionen freizulegen.
Konflikte bis hin zu Kriegen führen da noch weiter an die nackten, bar existenziellen menschlichen Handlungs- und Behauptungsweisen. Der ruhige und beschauliche, geradezu idyllisch friedliche Vorabend des Kriegsausbruchs verdient da nochmals eine ganz besondere Erwähnung. Wann und wie Menschen auch im Krieg in Frieden leben und ihren täglichen Gewohnheiten nachgehen wollen, wann und wie lange sie auch ihrer vielleicht täglich neu vom Kriegsgeschehen bedrohten oder gar zerstörten Arbeit nachgehen wollen und dies für sich und ihre Familien auch müssen: das verdient in diesem Zusammenhang noch einmal ganz besondere Beachtung.
Das Konfliktgeschehen selber und die offen zu Tage tretenden Motivationen der Handelnden oder eben auch der scheinbar passiv Verharrenden im Diskurs und bis hin dann zum Marschbefehl: auch da gibt es punktuelle Themen zu beleuchten. Schutzräume und ihre Funktionen vor und nach dem Ausbruch des Konflikts zumal als Waffengang, die Selbstbestimmung des / der Soldaten und Soldatinnen in Friedens- und Kriegszeiten, Selbstbestimmung per se auch der Zivilistinnen in Krieg und Frieden: welche Handlungsmotivationen stellen sich wann, wie und in welcher Form dar? Was ist da (in-) dividuell, was eher kollektiv gesteuert?
Insofern wird es hier also eher um den Konflikt selbst in seinen vielen Facetten gehen. Umbrüche und Transformationen weisen immer reichhaltige Konfliktpotentiale auf. Es geht also auch um Vor- und Nachkriegssituationen und die darin gefangenen und / oder sich befreienden Menschen. Die eben schon genannte Ukraine ist mir persönlich indes nicht so vertraut wie Afghanistan, das Land zwischen allen Einflusssphären in und eben zwischen Mittel-, Zentral- und Südasien. Resilienz, (Über-) Lebenskunst, Terror und Angst liegen da eng beieinander. Warn- und Vorzeichen indes des Kippens von Transformationsprozessen zu Konflikten und dann gar zu bewaffneten Kämpfen und Kriegen: auch darum soll es hier maßgeblich gehen. In vielen Zerreißproben befinden wir uns schon. Aus der Geschichte lernen indes ist kein passiver Vorgang. Er erfordert Blicke auch auf andere Orte. Benachbarte Menschen in und außerhalb ihrer Lebensräume und Lebenswirklichkeiten.
a) Zwischenräume zu Zwischenzeiten:
Transformationen Palermos (1) und Kabuls (2)
Afghanistan und seine geographische und geopolitische Lage und Rolle sind kein Einzelfall. Viele Phänomene der Kontrolle und Besatzung einer eher diffus verstreuten, nur lose national geeinten Gemeinschaft von Menschen verschiedener Herkünfte finden sich da zu anderen Zeiten und an anderen Orten wieder. Dies soll hier denn auch kurz einer genaueren Betrachtung gewürdigt werden. Zumal in ihren städtebaulichen und damit auch machtpolitischen Ausprägungen. Anhand 1. der sizilianischen Hauptstadt Palermo und der Transformationen, die Fremdherrscher dort ins Gefüge der ursprünglich phönizisch-arabischen Altstadt zur besseren Kontrolle eingeschrieben haben und 2. der afghanischen Hauptstadt Kabul.
In Palermo liegen zwischen dem Plan oben links mit der Begradigung der alten, ca. 1,6 km langen arabischen Hauptstraße vom südwestlichen neuen Stadttor zum nordöstlich davon gelegenen Meer und der Vierteilung des kaum kontrollierbaren Gassengewirrs darunter ca. 250 Jahre: 1567 bis 1818. Spanier und Franzosen teilen sich diese Aufgabe nacheinander. Daneben ist die Vierteilung der Altstadt am Ende des 20. Jahrhunderts und die Expansion schachbrettartig darum angeordneter neuer Stadtviertel der sizilianischen Hauptstadt in die umliegende Bucht noch ablesbar. Mein Diplomprüfer, Prof. em. für Städtebau und Stadtbaugeschichte Peter Degen sagte auch dazu: „Palermo wurde ans Kreuz genagelt.“ 2
In der afghanischen Hauptstadt Kabul erfolgt die Vierteilung der in Lehmbauweise mit großer Dichte entsprechend hier vollflächig schwarz gezeichneten Altstadt südlich des der Stadt den Namen gebenden Flusses dann mit sowjetischer Unterstützung in nur rund 11 Jahren: 1949-60. Der sowjetische Masterplan, der sich letzlich besonders in den Plattenbauvierteln Macrorayon I-III aus den 1960-70er Jahren rechts, also östlich der Altstadt hier im Plan darstellt, manifestiert eine nächste Beschleunigungsphase in Folge des „Great Game“ zwischen östlichen und westlichen Machtpolen und ihren jeweiligen Einflusssphären. Letztlich eine den ungeschriebenen Regeln des Kalten Krieges zwischen den Machtblöcken folgende Einflussnahme und Herrschaftsausübung, die dem (kulturellen) Erbe des „Great Game“ des 18. Jahrhunderts zwischen Britisch-Indien und dem russischen
Zarenreich folgen. 3
Der Blick von den alten Stadtmauern, den Orten an den Flanken des Berges hier, von denen aus insbesondere die Truppen Gulbuddin Hekmatyars im Bürgerkrieg 1991-96 Raketen auf Stellungen der Regierungstruppen Rabbanis in der Altstadt darunter feuerten, verdeutlicht nochmals die Dichte und zeigt das darin eingeschriebene, hier rot markierte Achsenkreuz. Der Kabul-Fluss ist blau markiert, grün umrandet jenes Viertel der Altstadt nördlich des Flusses, wo ich 02 / 2009 bis 07 / 2010 arbeitete.
b) Kurzer Exkurs in die Ukraine und die US
Der diesjährige Preisträger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, Ost-Europa-Historiker und Publizist
Prof. Dr. em. Karl Schlögel sagte jüngst mit Fokus auf das Kriegsgeschehen in der Ukraine:
„Europa fehlt eine Antwort auf die Wiederkehr des Krieges“.
Die Überlagerung von (kulturellem) Erbe kolonialer und imperialer Konflikte und wesentlichen Formen der Kriegsführung ist schwer auszuhalten, ist aber leider nicht nur Teil der Realität. Die aus immer neu auszuhebenden und zu befestigenden Schützengräben gefochtenen langatmigen Stellungskriege des 1. Weltkrieges, der versuchte „Blitzkrieg“ Putins und Russlands am 24. Februar 2022, der letztlich in einen verzweifelten, inzwischen mehr als 3 ½ Jahre andauernden Stellungs- und „Abnutzungskrieg“ zwischen Angreifer und Verteidiger mündete als signifikante Merkmale auch des „Totalen Krieges“ des 2. Weltkrieges, die Asymmetrie des Kriegsgeschehens zwischen neu-sowjetischen / russischen Imperialisten und eher „Freiheitskämpfern“ auf Seiten der Ukraine und der immens beschleunigte Drohnen- und Cyberkrieg des 21. Jahrhunderts überlagern und durchdringen einander im Osten der Ukraine, zwischen Cherson und Charkiw, zwischen Dnipro und Luhansk. Und darüber hinaus.
Feststellung und indirekte Frage: „Der Krieg ist wie ein Sumpf: Weshalb Ukrainer und Russen keinen Frieden finden“ vermögen insofern auch kaum zu strategisch sinnvollen Handlungen und entsprechenden Antworten außerhalb (europäischer) Ratlosigkeit zu führen. Putin, der in seiner altersstarren Verbohrtheit und dem entsprechenden Realitäts- und Reflektionsverlust sowohl an Shakespeares King Lear als auch an Iwan IV, genannt den Schrecklichen erinnert, wird den Gesichtsverlust genauso fürchten wie Präsident Selenskyj und sein natürlich keinen homogenen Block darstellendes Volk den Verlust von Freiheit und Selbstbestimmung. Mittel- und Westeuropa indes müssen endlich lernen, dass dieser Krieg nicht durch auch Hamlet und seinen dramaturgischen Schöpfer beleidigende Zögerlichkeit beendet wird.
Was aber zweifelsohne alles andere als leicht ist.
Wehrhaftigkeit auch mit der Zielsetzung eines Endes des Abschlachtens in der osteuropäischen Nachbarschaft beginnt damit, dass Europa seine Starrheit und Trägheit überwindet und flexible Antworten auch auf strategische Nadelstiche wie zuletzt Drohnenflüge über Polen, dem Baltikum und über dem Flughafen Kopenhagen nicht erst übermorgen, sondern jetzt bereithält. Der strategische politische Wille zur Selbstverteidigung hier und jetzt im letztlich eben dort sich ereignenden Kriegsgeschehen scheint da sehr wenig entwickelt. Wenn Russland also seinen Cyberkrieg mit Drohnen ausbauen will, dann sollte man in West- und Mitteleuropa vielleicht umgekehrt ukrainische Tüftler, die das dortige strategische und taktische Drohnenprogramm mit bescheidenen Mitteln ausgebaut haben und hiesige Entwickler mit weitaus besseren Möglichkeiten zur beschleunigten Forschung und Produktionsreife von (preiswerten und rasch einsetzbaren) Abwehrdrohnen zusammenbringen. Bereitschaft und Würdigung und Anerkennung von eigenen Soldaten gilt es zudem zu erhöhen. Das betrifft auch die Besoldung und Rekrutierung.
Militärhistoriker Sönke Neitzel sagt entsprechend überspitzt im Format futurzwei der taz : „Putin lacht sich über uns kaputt.“
Solche Maßnahmen jedoch widersprechen nicht dem Sozialstaat und den anderen lange erforderlichen Transformationen. Sie dienen eben dem Auf- und Weiterbau von Solidargemeinschaften und ihrer erforderlichen Infrastrukturen. Ob Schuldenbremsen und die letztlich dadurch beförderten Dogmen indes das in Zeiten massiver multipler Bedrohungen tun: das sei einmal mehr dahingestellt.
Was die ukrainischen Drohnenprogramme betrifft, da beschreibt der frühere US-Navy-Pilot Ken Harbaugh im Atlantic unter dem reißerischen Titel „Ukraines tödlichste Soldaten“ seine embedded mission bei drei Soldaten der seit gerade einem Jahr bestehenden 34. Küstenschutzbrigade der ukrainischen Armee an den Frontlinien im Raum Cherson. Die Ausweitung des Drohnenkrieges auf die Federally Administered Tribal Areas (FATA) in den Paschtunen-Gebieten im Grenzraum zwischen Afghanistan und Pakistan, der so genannten „AfPak-Zone“ unter US-Präsident Obama habe ich selbst auf dem Boden in Kabul im Sommer 2009 insbesondere bei Beherrschung des strategisch wichtigen Swattals auf pakistanischer Seite der Durand-Linie durch Taliban miterlebt. Was Ken Harbaugh aber jetzt hier beschreibt, das ist als Drohnenkrieg auf freiem Feld weitaus vielschichtiger. Gaming on the battlefield. Taktisch und strategisch erfordern solche Operationen viel Speed und Amphetamine, um da immer hellwach zu sein. Und eine entsprechend gezielte Schulung und Ausbildung der Soldat*innen in dieser beschleunigten Form der Kriegsführung und ihren Werkzeugen, wie auch Sönke Neitzel betont. Dafür aber gilt es, auch die Bevölkerung mitzunehmen. Diese Beschleunigungen zu thematisieren und den Schrecken auch abrupter Abbremsvorgänge darin zu nehmen.
Was die Provinzialität des deutschen bedingungslosen Festhaltens an der Schuldenbremse in Zeiten von Kriegen und Umbrüchen betrifft, da beschreibt Rogé Karma im Atlantic US-Präsident Donald Trumps Zugriff auf die Federal Reserve als „Zugang zu einer endlosen Geldgrube, einem Fass ohne Boden, das ihm noch mehr Macht geben wird, um seine Freunde zu belohnen und seine Feinde zu zerstören“.
Gleichfalls am 22. September 2025 überschreibt Paul Rosenzweig im Atlantic die aggressive Günstlingswirtschaft am Hofe Donalds I. im vormaligen Haus des gewählten und demokratisch legitimiert regierenden US-Präsidenten in Washington DC mit dem Titel „Eine abgrundtiefe Überschreitung“. Auch Rosenzweig zitiert ein historisches Geschehen, das Shakespeare als Vorlage für seine Stoffe hätte dienen können: die Ermordung des Erzbischofs von Canterbury durch Schergen Heinrichs II. auf dem englischen Thron am 29.12. 1170.
Demokratie(n), Freiheit(en) und damit untrennbar verbundene Grundrechte, die letztlich die Menschenwürde gem. Art. 1 GG ausmachen, sind vielerorts heftigen Angriffen ausgesetzt. Ist abwartendes Appeasement da eine angemessene Antwort auf die Unberechenbarkeit des 1. (selbst sich so gebärdenden) Königs der US? Eines Landes, dessen Menschen wir hier vieles insbesondere nach dem 2. Weltkrieg zu verdanken haben, das sich in einer tiefen, lange anhaltenden und nun kulminierenden konstitutionellen Krise befindet? Zumal, wenn nebenan die Einschläge heftiger werden?
„Entscheidungsträger“, Personen wie CDU-/ CSU-Fraktionschef Jens Spahn jedoch scheinen in diesem Zusammenhang einmal mehr unter chronischer "Realitätsverweigerung" zu leiden. In Anbetracht der Zerreißprobe seiner Partei zwischen denjenigen, die lieber heute als morgen mit der AfD zusammen regieren und denjenigen, die lieber mit einer SPD, die ohnehin die Verbindung zu ihren Wählerschaften, auch dem weitläufigen Prekariat komplett verloren hat weiterregieren würden, kann man Spahns (selbst-) beschwichtigendes Geschwurbel zu Trump und Konsorten bei Caren Miosga am 21. September 2025 nur so verstehen.
Da es mir immer mehr um das kritische Zusammenbringen von Gedankengängen geht: gleichfalls am 21.September 2025 besprechen Catherine Newmark und Philosophie-Lehrerin Mirjam Schaub im Deutschlandfunk-Podcast Sein und Streit die Frage: „Was heißt eigentlich radikal?“ Der Terminus der "(Teilzeit-) Radikalität" und das Thema der Entgrenzung indes, wie hier erörtert, scheinen primär den Fokus auf das Individuum, weniger auf kollektives Erbe und seine Wahrnehmungen zu richten. Der Begriff des "Individuums" indes wird ganz maßgeblich von Michaela Ott und anderen gleichfalls klugen Denkerinnen angefochten. Prof. Dr. em. M. Ott spricht von "bedingt unteilbarer Vielfachunterteiltheit" auch des einzelnen Menschen und plädiert für die "Dividuation" als die Person charakterisierenden Terminus 4.
Vielleicht liegt mein Eindruck der "Realitätsverweigerung" bei Jens Spahn auch an seinem "Individualbegriff", der kollektive gedankliche Transferleistungen vom ich zum es und wir zumal insbesondere in der Not weitestgehend auszuklammern scheint. Der Terminus der „Radikalität“ sollte in diesem Zusammenhang sowohl im Hinblick auf das Denken und Handeln der einzelnen Person, als auch das kollektive Erbe im Sinne der Dividuation weiterhin eingehender beleuchtet werden. Vielleicht kommen WIR so endlich zu realen Verfassungswirklichkeiten der dialogischen Prinzipien der Teilhabe und da zugrunde gelegten würdevollen Formen der Selbstbestimmung? 5
Die lange erwartete Versammlung von rund 800 auch überall in Übersee stationierten US-Generälen aller Dienstränge auf dem Stützpunkt Quantico südlich von Washington DC zur „Einschwörung auf den Krieger-Ethos“ durch Irak-Veteran Pete Hegseth und Präsident Trump stellt zumal einen weiteren Beschleunigungsfaktor der US-/ MAGA-Innen- und Außenpolitik dar. Dies geschieht schließlich auch vor dem Hintergrund des nahen Shutdowns staatlicher Behörden, also der Haushaltssperre der US und des Einsatzes der Nationalgarde im Inneren mit der Aufforderung, das Militär solle (den MOUT-Häuserkampf) eben auch „in gefährlichen" US-Städten „üben"
Zur Erinnerung nochmals: einer von Trump 2s ersten Akten Ende Januar 2025 war die Entfernung von Ex-Generalstabschef Mark Milleys Porträt aus dem Pentagon. Streichung des Personenschutzes, Start der Ermittlungen gegen seine Kritiker: General Ret. Milley hatte noch vor Kamela Harris „Trump als Faschisten durch und durch“ bezeichnet. Seine Warnung an den chinesischen Amtskollegen vor Trump 1 Abwahl und Sturm auf das Capitol wird von Trump 2 natürlich nochmals zusätzlich als Hochverrat verfolgt. Trump 2 nutzt die nicht erst seit G.W. Bush 2000 bestehende Verfassungskrise der US dabei in einer Weise, der mit „europäisch moderatem“, oftmals geradezu lethargisch erscheinendem Appeasement nicht beizukommen ist.
Wer wie der designierte „Kriegsminister“ Pete Hegseth die Soldaten des Wounded-Knee-Massakers 1890 bedingungslos verteidigt und betont, dass diese ihre Ehrung mit der Medal of Honor verdient hätten, der will die Gesellschaft weiter spalten. In Höflinge und andere Menschen? Auf dem Boden welcher Verfassung? „Collateral Murder“, das 2010 von Wikileaks, Chelsea, damals noch Bradley Manning und Julian Assange hochgeladene Video wird so zum Regelfall erklärt. Hauptsache, es dient den Höflingen und ihrem Machterhalt?
Deutsche Regierungspolitiker wie Jens Spahn, die solche Vorgänge und offenkundig autokratisch jegliches Recht beseitigende Scharaden noch als „inneramerikanische Angelegenheit“ abtun und sich so wegducken indes haben keine Ahnung vom amerikanischen Volk und seiner Zerrissenheit. Schlimmer noch: sie haben keinen Respekt vor der Vielfalt der Menschen. Sie sollten zurück in das Backoffice irgendeiner Bank geschickt werden.
„Wenn ehemalige Wegbegleiter wie Milley Trump einen Faschisten nennen, dann bezieht er sich definitionsgetreu auf die "obsessive Beschäftigung mit dem Niedergang, der Demütigung oder der Opferrolle einer Gemeinschaft sowie einen kompensatorischen Kult um Einheit, Stärke und Reinheit" – auf die Definition eines Faschisten.“
Der Freibrief für Gewalttätigkeit nach innen und außen, der nun von Hegseth und Trump erteilt wird: nicht nur, dass alle Spaltungen in arm und reich, wohlhabend und chancenlos und mehr vertieft werden. Ein Freund hier aus Brooklyn sagte mir mal, dass seine größte Angst war, dass irgendwann Leute aus dem Mittleren Westen mit ihren vollen Waffenschränken bei ihnen einfallen würden. Diese Konfrontation zwischen blauen und roten Staaten, zwischen „GOP, der Grand Old Party“ der Republikaner und den „woken und verweichlichten“ Demokraten wird nun instrumentalisiert und das US-Militär dazwischen genommen. Besser: es wird zum Erfüllungsgehilfen der GOP gemacht. Vor dem Hintergrund des Shutdown sind denn auch die enormen Kosten für das Zusammenkommen von rund 800 Generälen aus aller Welt erstaunlich. Die Antwort ist eigentlich: die teure Propagandaschau dient zwar nicht dazu, die ranghöchsten US-Militärs zu einem Eid auf den Präsidenten zu bringen, wie im Vorfeld vielfach gemutmaßt worden war. Aber sie dient zum Bürsten auf Linie und zum Einschüchtern des mächtigsten Militärapparates der Welt. Vielleicht führt sie eben auch zur Aufspaltung dort. Denn: Migranten, auf die es ja Trump besonders unverhohlen abgesehen hat, darin einmal mehr Afroamerikaner, die schon am längsten dort als Erben der Sklaven sind, stellen auch einen großen Teil der Streitkräfte. So wie die spannende und schöne Doku „Echte Schweizer“ Identität, Kameradschaft und Wehrhaftigkeit von Migranten in der Schweizer Armee exemplarisch porträtiert, so gibt es diese Rollenbilder natürlich auch in der US-Army. Auch in der Bundeswehr. Daraus resultierende Rollenkonflikte werden nun verschärft. Tötung oder Ermordung George Floyds durch in dem Fall weiße Polizeibeamte in Minneapolis: wie auch immer man es nennen mag. Die danach gewachsene „Black Lives Matter“ Bewegung indes: Hegseth und Trump deklarieren auch solche Übergriffe nun als „Betriebsunfälle“, die Konflikte in jedem Falle weiter verschärfen sollen und die Gesellschaft als solche weiter in- und Teile der Gesellschaft weiter diskriminieren und verunsichern sollen. Wehrhaftigkeit und Verteidigungsbereitschaft sind wichtig und erforderlich. Aber auf dem Boden eines Ethos, der vereint und nicht spaltet. Das ist der Kern auch aller martial arts, der Kampfkünste. Und auch der US-Verfassung. Und auch des deutschen Grundgesetzes, das schließlich vom Alliierten Kontrollrat der drei westlichen Besatzungsmächte beauftragt und genehmigt und vom Parlamentarischen Rat 1948-1949 ausgearbeitet wurde.
Wie schon gesagt: wir haben dem amerikanischen Volk viel zu verdanken. Insbesondere jenen, die auf dem Boden der Verfassung stehen. Und das ist die Mehrheit. Ich habe selbst Familie dort. Appeasement und Wegducken verrät, dass man Zeichen der Zeit und ihrer Wenden nicht verstehen will und damit auch die Wähler aus der eigenen Komfortzone heraus bedingungslos täuscht.
Diplomatie in Strukturen multipolarer (Un-) Ordnungen erfordert mehr als das Blockdenken des 20. Jahrhunderts, in dem viel zu viele uns hier gefangen halten wollen. Strategische und taktische Wehrhaftigkeit tut auch da not.
c) Sein und Streit weiter: Boden und das Recht
Zunächst ist da einmal mehr zu konstatieren, wie viele Impulse hier von Damen, mithin weiblichen (Vor- und Durch-) DenkerInnen zu verzeichnen sind. Es geht für mich als Mann jedoch immer nur gemeinsam weiter. Auch mit einer weiblich / vorwiegend weiblich divers / vorwiegend männlich divers / männlich / vorwiegend männlich / vorwiegend weiblich / vorwiegend divers / divers Nomenklatur. Eine „volonté generale“, eine zielgerichtete gemeinsame Willensbildung ist auch und gerade unter so vielen Vorlieben und damit unmittelbar verknüpften persönlichen Identitätszuschreibungen erforderlich.
Isabel Feichtner ist da zumal einmal mehr unter der Überschrift „Die Praxis des Gemeinsamen“ und weiterhin
unter „Commons-Public-Partnerships“ zu zitieren:
„Commoning und Vergesellschaftung richten sich gegen Privateigentum und die dadurch ermöglichten Herrschafts- und Verwertungsbeziehungen. Positiv zielen sie auf einen anderen Staat mit demokratisierter Gesellschaft, die Freiheit, Sicherheit und Versorgung durch die Teilnahme und Teilhabe der Bewohnerinnen je nach ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen ermöglicht. Commons als Beziehungssysteme Gleichrangiger, die Boden als Gemeingut pflegen, verwalten und bewirtschaften, sind ein Ausdruck bewusster Vergesellschaftung.“ 6
Die Wohnungskrise als Krise der privaten Aneignung und Bestimmung des Bodens und damit auch der Regeln der Verwertung von Boden allgemein in Stadt und auf dem Lande ist im Zuge der vorherrschenden starren, überwiegend privatwirtschaftlich bestimmten Verwertungsregeln auch maßgeblich eine Krise von Wartung und Funktionserhalt und somit überhaupt Um- und Weiterbau von weiter detaillierter zu definierenden Infra-, Intra-, Inter-, Trans-: Strukturen. Der für den gesellschaftlichen Fortschritt und damit allen nützliche Dialog zwischen den vielen beteiligten Organen und Körperschaften erfordert überhaupt Basen, Fundamente und sowohl rechtliche, als auch sprachliche Plattformen, auf denen zwischen Bau- und Planungsrecht als wesentliche Teile öffentlichen Rechts und den vielen Formen von Wirtschaftsrechten und ihren Vertragsgrundlagen synergetische und zielorientierte Kommunikation als primäre Zielvorgabe erst einmal klar herausgearbeitet werden sollte. Die Kommunikationsbarrieren zwischen den vielen parallel existierenden Rechtsräumen und den entsprechenden Anspruchshaltungen sind durchaus bei umgänglicher Willensbildung abbaubar. Dafür müssen jedoch auch rechtliche Dogmen entsprechendem Ermessensspielraum und dem Primärziel funktionaler und zukunftstauglicher Gesetzespraktiken folgend interpretiert werden können. Datenschutzrichtlinien etwa dürfen infolge der kommunikativen Barrieren zwischen einzelnen Verwaltungseinheiten bei Ermittlungen etwa gegen organisierte Kriminalität nicht zu strafrechtlich relevantem Täterschutz führen. Dies nur als eines von vielen Beispielen dysfunktionaler (Rechts-) Praktiken, die letztlich den Verdruss der Wähler und die Macht der „Alternativen für Deutschland“ steigern. Der AfD indes, die auch der Gewissheit vieler Protestwähler entsprechend nicht wirklich ausgleichende Alternativen für das deutsche Volk bereithält.
Viele gerade junge Leute denken zudem, dass sie mit einem Hebel den solchermaßen trägen Rechtsapparat bewegen können. Gerade im Bau- und Planungsrecht, etwa bei städtebaulichem Wettbewerb und Vergabe indes sind zumal im Hinblick auf die gewaltigen Preismargen im Rahmen der Assetisierung von Grund und Boden Hoheitsansprüche der den Haushaltsrahmen festlegenden Städte und Kommunen mit ihren eigenen Organen und Körperschaften fachlich begründeten Weisungen gegenüber eher immun. Auch deswegen ist allgemein wie eben ganz speziell bei (überwiegend jungen) Gruppierungen wie Architects for Future der Austausch zwischen den Generationen und Mischung von Erfahrung der Älteren mit Elan der Jüngeren so wichtig. 7
„Die Kooperation (zwischen zivilgesellschaftlichen AkteurInnen, also so genannten AktivistInnen einerseits und Behörden, also föderalstaatlicher Verwaltungen auf allen Ebenen andererseits, Anm. d. Verf.) hat aber auch das Potenzial, Verfahren, Arbeitsweise und das Recht der Verwaltung zu ändern. Commons-Public-Partnerships können wie in Barcelona zu Sozialwertbilanzierungen und weiteren Änderungen von Verwaltungsvorschriften und -recht führen, beispielsweise der Änderung der kommunalen Vergabepraxis, um Commons-Projekte zu fördern und abzusichern.“ 8
Isabel Feichtner beschließt ihre Abhandlung „Bodenschätze; Über Verwertung und Vergesellschaftung“ exemplarisch zu „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“ in Berlin und den Forderungen insbesondere pazifischer Ozeananrainer zu Tiefseebergbau und Meeresbodenregime, dem Gedanken und der (völker-) rechtlichen Definition des „kollektiven Menschheitserbes“
folgend mit den denkwürdigen Worten:
„In Kooperation von Theorie und Praxis können zunächst utopisch scheinende Ideen konkrete rechtliche Formen gewinnen. Heute inspirieren uns ihre detailliert ausgearbeiteten institutionellen Vorschläge. Morgen schon kann in Folge unerwarteter Konstellationen der Moment kommen, mutige Entwürfe für Vergesellschaftungsgesetze und planetare Behörden aus der Schublade zu holen und an ihrer praktischen Umsetzung zu arbeiten.“ 9
d) Obdachlosigkeit generell und
kurzer Exkurs nach San Francisco
Bis dahin gilt es, noch manches auch dickeres Brett zu bohren.
Laut OECD-Statistik liegt Deutschland mit ca. 28 Personen auf 10.000 Einwohnern im Hinblick auf Obdachlosigkeit unter den OECD-Staaten hinter dem UK (England), Frankreich und Tschechien an vierter Position. Mit den fließenden Daten von Lettland liegt Deutschland an fünfter Stelle. Damit noch vor Irland und den US, wo ich im Großraum San Francisco – Oakland - Bay area 2019 schon das schlimmste Obdachlosenproblem in der westlichen Welt vermutete.
San Francisco mit dem konsequent der hügeligen Küstenlandschaft der Halbinsel zwischen Pazifik und Bucht mit entsprechend beschränktem Flächenangebot eingeschriebenem hippodamischen Raster. Die Stadt, die neben New York City auch dem liberalen Ökonomen und Publizisten Henry George zur Entwicklung seines Vorschlags einer
„single tax“ in „Progress and Poverty“ 1879 diente.
„Einer Bodenwertsteuer, welche lediglich die am Boden „unverdienten Wertsteigerungen“ für
die Gemeinschaft abschöpft. Andere Lasten wie die Einkommenssteuer sollten hingegen abgeschafft werden.“ 10
San Francisco, das ich ganz besonders auch in seiner sozialräumlichen Position zu Oakland hier immer mit Düsseldorf und seiner Stellung zu Duisburg am Niederrhein veranschauliche: Die reiche Dienstleistungs- und Verwaltungshauptstadt der Tech-Branche und die viel stärker noch sozialräumlich fragmentierte Hafenstadt mit entsprechenden großen, noch produzierenden Industriebetrieben, aber auch der Uni Berkeley auf der anderen Seite der Bucht. Aber auch eben enorm großen Obdachlosengruppen gerade auch zwischen San Franciscos altem Industrieviertel Mission, das wiederum im Grade seiner Gentrifizierung durchaus Parallelen mit Düsseldorf-Flingern aufweist und der Tenderloin, den anderen benachbarten Vierteln an den Hügelflanken, die sich da downtown zur Bay hin hinunterziehen.
Rick auf dem linken Foto sprach mich an, als ich gerade ein Foto von einem der vielen schönen Art-Deco-Hochhäuser dort machen wollte. Plötzlich sagte eine Stimme hinter mir: „Das Haus steht schon drei Jahre lang leer“. Ich drehte mich um und fragte zurück: „Der Hotelturm hier sieht aber gerade frisch saniert aus.“ Er lachte und wies auf ein heruntergekommenes dreigeschossiges Haus gegenüber im Blockrand vor der durch den Hotelturm ausgebildeten Ecke. Wir kamen ins Gespräch: Rick war als Army kid mit seinem in Italien stationierten Vater in Europa gewesen. Er hatte sich das Hüftgelenk gebrochen und hatte dann bald seinen Job als Verkäufer im Baustoffhandel verloren. Es dauerte keine zwei Jahre, dann gab es auch ein Zerwürfnis mit seiner Partnerin und er verlor seine Wohnung. Durch die Schonhaltung wurde zudem sein Knie beeinträchtigt. Aber: er hatte eine kleine Krankenversicherung und sparte für eine OP. Außerdem suchte er, seine Computerkenntnisse zu erweitern, um dann wieder in den Jobmarkt einzusteigen.
Tony rechts fuhr mit seinem Scooter und seiner COPD-Maske meistens singend durch die Straßen. Bei unserer ersten Begegnung fragte er mich plötzlich in rasantem Überholvorgang von der Seite, wohin ich denn wolle und, ob ich denn zufällig zwei Millionen Dollar für ihn übrighabe. Bis zum Eingang von Chinatown hatte ich ihn auf 5 Bucks heruntergehandelt. Er nahm das gerne lachend hin. Wir trafen uns immer wieder und ich erzählte ihm, der ursprünglich aus Cincinatti hierhin gekommen und gestrandet war und einen Schlafplatz in einem HPS, einem homeless people shelter hatte von dem Grund meiner Reise in die Tenderloin, meinen beiden Söhnen hier. Als ich ihm mehr davon erzählte, sah ich hinter seinen dicken Brillengläsern Tränen. Vielleicht hatte er ähnliche Dinge erlebt. Großartige Menschen. Viele bewegende Geschichten. Einmal warnte Tony mich vor einem weißen Obdachlosen, der offenkundig auf Meth oder einer anderen synthetischen Droge war. Auch die Latinos und Chinesen und andere Ostasiaten waren in Gruppen auf der Straße recht gut organisiert. Aber einmal mehr waren es afro—amerikanische Freunde, die am zugänglichsten waren. Sie, die nach den indigenen Bewohnern des nordamerikanischen Kontinents am längsten dort waren, die Blues, Soul, Gospel, Rap und Hiphop und mehr kreiert hatten. Die in Häusern lebten, die andere, vorwiegend Weiße „Broken homes“ nannten, wie Gil Scott-Heron sagt, die aber täglich hart dafür arbeiteten, für und an ihren Leben und ihren Behausungen.
Danach kam Corona. Ich hoffe und bete so sehr, dass Rick und gerade auch Tony das überlebt haben,
dass sie wieder Chancen erhalten haben. Chancen, die sie sich erarbeiten konnten. Die sie verdient haben.
In der auch sozialräumlich stark gespaltenen Stadt Düsseldorf hinter dem Hauptbahnhof wohnend bemerke ich die Zunahme der Verelendung auch beim „living rough“ auf der Straße wie auch in Notunterkünften auf Nachfrage zusehends. Die Rezession jetzt und Migration und Migranten als Projektionsflächen für träges Beharren auf „Business as usual“? Dabei gibt und gäbe es so viel zu tun an bisher und nun einmal mehr ausgebremsten und verschleppten Transformationen. Mit Migranten. Leuten, die WIR eigentlich brauchen. Die Wertschätzung verdienen für ihren Willen und die Not, ihr Leben mit und bei uns zu meistern.
Insofern gilt es jetzt zuerst noch einmal mehr, maßstäblich referentiell und zu
„Zwischenräumen und Zwischenzeiten“ und den diesen zugrunde liegenden Beziehungsgeflechten zurückzukehren.
e) Zwischenräume und Zwischenzeiten:
Fremd- und Selbstbestimmung
Nach den Transformationen Palermos (1) und Kabuls (2)
Die eingangs hier kurz dargestellten Städte Palermo und Kabul weisen sehr viel weitergehende
Charakteristika auf. In ihrer weiteren historischen und stadträumlichen Entwicklung zudem.
Der langjährige Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando sagte einmal, der Ätna als aktivster Vulkan Europas gäbe den Sizilianern ihre Kraft. Und: die Bewohner der größten Insel im Mittelmeer zwischen Nordafrika und dem italienischen Stiefel würden dem Besucher und Gast ihr Herz in den Händen darreichen. Er sagte natürlich nicht, was passiert, wenn der Gast dieses Herz ergreifen und dabei eben auch verletzen würde. Wenn er den tiefen Wunsch nach Freiheit, Würde und Selbstbestimmung dieses Herzens eben nicht respektiert und achtet.
Mit der zweiten Transformation des arabisch-phönizischen Altstadtkerns der sizilianischen Hauptstadt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gingen sogleich die Beschleunigungen des ausgehenden 19., dann frühen 20. Jahrhunderts einher. Die Mafia als „Parallelgesellschaft“, letztlich als Bündnis von Teilen der durch aufständische Bauern und Briganten und bald durch Landreformen bedrohten sizilianischen, zumeist adligen Großgrundbesitzer mit kriminellen Banden, der Risorgimento als nationales Wiedererstehen Italiens und der Faschismus führten zu weiteren Fremdbestimmungen Siziliens und seiner Bewohner. Die Einigung der Fürstentümer der Apenninhalbinsel als konstitutionelle Monarchie im Königreich Italien insbesondere nach Eroberung des Kirchenstaats in Latium und der Hauptstadt Rom 1861-1870, die rasche Industrialisierung dann des Nordens von Italien im Zuge des 1. Weltkriegs und die Wirren der Nachkriegszeit und der Faschismus Mussolinis als zentralisierte autokratische Herrschaft verschärften die Teilung Italiens in den reichen, eher mitteleuropäisch geprägten industrialisierten Norden und den südlich von Rom beginnenden, eher völkisch mediterran agrarisch geprägten Mezzogiorno.
Die Ferne, oft als Abwesenheit empfundene Distanz des römischen Staates und die Konkurrenz der Mafia schlugen sich auch in Stadtraum und Stadtgefüge Palermos auf vielfältige Art und Weise nieder. Einerseits wurde die Bauindustrie im Neubau ein Kerngeschäft der sizilianischen Mafia, der Cosa Nostra, andererseits boten die engen Viertel der immer stärker vernachlässigten Altstadt genügend Schutz für alle Arten von Geschäften. Der Zentrum-Peripherie-Konflikt schlägt sich auch in Taktiken und Geschäftspraktiken der „Ehrenwerten Gesellschaften“ nieder. Städtische Clans vermögen viel stärker ihre Geschäfte in den vielen ko-existierenden Wirtschaftszweigen dort zu etablieren. Eher ländlich geprägte Clans indes müssen immer wieder neue Claims und Geschäftsfelder auch außerhalb der engen Räume und der weitläufigen Liegenschaften,
ihrer Brachen und ihrer Bedarfe erobern.
Die Mafiakriege insbesondere in Palermo in den 1980ern erreichten dann ihre unrühmlichen Höhepunkte 1992 mit den Ermordungen der Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino. Insbesondere die Überzeugung Tommaso „Don Masino“ Buscettas durch Falcone 1984, als Pentito, also Kronzeuge gegen die Mafia mit der Staatsanwaltschaft zusammenzuarbeiten, ermöglichte die Maxiprozesse, bei denen letztlich der Kern der Familien der ehrenwerten Gesellschaft(en) unter Anklage gestellt werden konnte. Alle drei, Falcone, Borsellino und Buscetta wuchsen in Palermos Altstadtviertel La Kalsa, nordöstlich der Quattro Canti, des Kreuzungspunktes zwischen Hafenbucht Cala und Garten Villa Giulia gelegen
unter ganz verschiedenen Bedingungen auf.
Der schon erwähnte Bürgermeister Palermos von 1985 bis 1990, von 1993 bis 2000 und von Mai 2012 bis Juni 2022 Leoluca Orlando, der derzeit, 2025 im Europaparlament sitzt, gründete 1991 La Rete als Partei und „Netzwerk“, als „neues politisches Subjekt“ und eine „Bewegung für Demokratie“. Orlando ermutigte als Pentito von Giulio Andreottis Democrazia Cristiana in der Folge dieses und vieler darauffolgender zivilgesellschaftlicher Bündnisse auch top-down Geschäftsleute, den Pizzu, also Schutzgelder aller Art öffentlich zurückzuweisen. Bottom-up indes war die „Anti-Mafia-Bewegung“ schon lange fragmentiert aktiv gewesen. In der reichen sizilianischen, insbesondere palermitanischen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts ragen da unter vielen anderen auch Personen wie der sizilianisch schreibende und auch auf Marktplätzen rezitierende Lyriker Ignazio Buttitta, der Maler, Zeichner und mehr, auch Vertreter eines moralisch motivierten Realismus Renato Guttuso oder etwa der ursprünglich aus dem heutigen Slowenien stammende Architekt, Soziologe, Sozialreformer und Pazifist Danilo Dolci heraus.
Die Anti-Mafia-Bewegung heute hat auch maßgeblich mit dem, was der palermitanische Journalist und Schriftsteller Roberto Alajmo den Triumph des „Berlusconismus“ als breite Abwendung vom Staat und der Bevorzugung kurzfristiger egoistischer Vorteile bezeichnet zu kämpfen. Im Zuge der Privatisierung der Bildung und damit der drohenden Schließung primär geisteswissenschaftlicher Uni-Fakultäten gerade im Süden Italiens verdient die Studentenbewegung „La Pantera – siamo noi“ – „Der Panther – das sind wir“, die Anfang der 1990er Jahre gerade in Napoli und Palermo die Unis lange bestreikte hier besondere Erwähnung. Die Staatsanwaltschaften im Mezzogiorno, insbesondere der Magistrat von Palermo führen auch in ihrem Vorgehen gegen Schlepperbanden und Seelenverkäufer in den Tragödien der Flüchtlingskrise im Mittelmeer das Erbe Falcones und Borsellinos weiter. Der auf der Sizilien vorgelagerten, zwischen Malta und Tunesien liegenden Insel Lampedusa spielende Dokumentarfilm „Fuoccoammare“ – „Seefeuer“, der 2016 als bester Film der 66. Berlinale ausgezeichnet wurde, wird von Regisseur Gianfranco Rosi auch mit folgendem bemerkenswerten Satz kommentiert:
„Wir leben in einer Welt, in der gerade viele Mauern und Grenzen gezogen werden. Am meisten
habe ich Angst vor den geistigen Grenzen, die hochgezogen werden.“
Nach diesem raschen Überblick zu Palermo und seiner reichen Kulturgeschichte, ausgehend von den städtebaulichen Einschreibungen verschiedener Fremdherrscher Siziliens und der „Ästhetik des Widerstands“ 1 soll es nun kurz
zum Geschehen in Kabul nach und während dortiger „Kreuzigung der Altstadt“ 1949-60 gehen.
Nach dem 2. Weltkrieg, in dem Afghanistan neutral geblieben war, schreibt Zahra Breshna in ihrer Dissertation vom „Bau der überdimensionalen Straßenachse durch die Stadtverwaltung (von 1949-1960)“. Durch den Einschnitt von Jade Maiwand in Ost-West-und Jade Nadir Pashtoon in Nord-Süd-Richtung „wurde die Altstadt an den Rand des städtischen Zusammenhangs gedrängt“. „Abwanderung von Mittel- und Oberschicht“ führten zu zunehmender „Verwahrlosung“. 11
Beginnende „Verslumung“ der Altstadt Kabuls im Sinne von Mike Davis „Planet der Slums“ 12 als weitergehendes sozialräumliches Phänomen wird auch charakterisiert durch Erwin Grötzbachs konstatierte „Bildungsarmut“: 1960 stellten „Einzelhändler und Handwerker noch 2/3 der Altstadtbewohner“, 1968 nur noch „knapp 45%, während gleichzeitig die ungelernten Arbeiter etwa 30% ausmachten“. 13
Breshna sagt: „1955 lehnten die USA eine Bitte um Entwicklungshilfe von Premierminister Daoud ab. 1956 besuchten Chruschtschow und Bulganin Afghanistan und versprachen jede Hilfe für das Land.“ 14 Insofern ist auch davon auszugehen, dass die Sowjetunion spätestens ab 1956 die „Kostenexplosionen“ am Ende der gewaltigen baulichen Intervention in der Altstadt federführend auffing. Weiterhin sagt die aus einer angesehenen Kabuler Planerfamilie stammende afghanisch-deutsche Architektin 2004: „Damit wurde die von nun an auf Russland fixierte Politik zum Beginn der Tragödie der vergangenen 25 Jahre“. 15 Ob und inwiefern das letztlich niemals wirklich kolonialisierte Land damals, 1955 einen „Staatsbankrott“ erlitt und letztlich als „zwischen verschiedenen Machtpolen in Zwischenräumen und Zwischenzeiten“ auch nach der Unabhängigkeit Indiens und vor allem Pakistans einmal mehr völlig zerrissen war und auch ökonomisch viele Kriterien eines „gescheiterten Staates“ aufwies: auch das kann hier nur angedeutet werden. Die Kriterien des nach Definition des staatlichen Scheiterns Anfang der 1990er Jahre nun seit 2005 ermittelten „Failed State Index“, der dann 2013 durch den „Fragile State Index (FSI)“ ersetzt wurde, erfüllt Afghanistan so wie immer mehr Länder des „globalen Südens“ schon lange. Mal mehr, mal weniger. Aber letztlich: in unaufhaltsamem geopolitisch manifestem und ideologisch ignorant begründetem Abschwung.
Das hier „2022 FSI dunkelrot = großer Alarm“ markierte / indizierte Land zwischen Zentral- und Südasien wird sich zumal unter derzeitigen (neo-) imperialen (Rohstoff-) Begehrlichkeiten und anderen Scharmützeln niemals stabilisieren können.
Eine sehr detaillierte und umfassende Publikation der Bundeswehr zu Afghanistan indes widerspricht Zahra Breshna anfänglich. Einerseits steht da „Vom Ost-West-Konflikt allerdings profitierte Afghanistan. Die Regierung lavierte lange Zeit so geschickt zwischen den Blöcken, dass beide Seiten großzügige Entwicklungshilfe leisteten.“ Wenig später heißt es dann aber: „Die Hilfe des Auslands nützte Afghanistan zwar, machte es aber auch abhängig. … Ein Teil der Hilfe – selbst die sowjetische Militärhilfe – bestand aus günstigen Krediten, die zurückzuzahlen waren. Beamte, Lehrer, Bauern, Tagelöhner und kleine Händler profitierten so gut wie nicht von der ausländischen Präsenz. Am Ende der 1960er-Jahre begann die Wirtschaft zu stagnieren, der Staatshaushalt schrumpfte.“ 16
Das Foto hier von Ende Mai 2009 aus Asheqan wa Arefan, dem südöstlich des Kreuzungspunktes der Altstadt von Kabul gelegenen Viertel zeigt viele Aspekte des Dilemmas eines solchen Ortes als Post-Konflikt-Ort ohne Übergangsmöglichkeit in eine wirkliche Transformation und Nachkriegszeit. Kriegszerstörung vorwiegend aus den verschiedenen Phasen des Bürgerkriegs 1991-1996, verschüttete Grundstücksgrenzen und damit Eigentumstitel nach damals 30 Jahren offenem Konflikt. Also nach 1979, der Invasion der Sowjets. Die Erosion recht nahe am Flussbett zeigt aber auch die völlige Zerstörung von Infrastrukturen und die Schutzlosigkeit der Bewohner dort. Diese wird nochmals versinnbildlicht durch das Kind, das Zuflucht vor der gleißenden Sonne im zerstörten engen Gassengeviert unter der im heißen Wind wehenden Burka der Mutter sucht. Auch die zusätzlich durch den Migrationsdruck, Übernutzung und (zumeist illegale) Brunnenbohrungen verstärkte Wasserarmut deutet sich hier an.
Anfang der 2000er Jahre zählte Kabul 2-3, inzwischen wohnen rund 5-6 Mio. Einwohner in der zumindest damals am schnellsten wachsenden Stadt Zentralasiens. Der Boden und die dem Gemeinwohl dienende Nutzung und Verwertung dieses begrenzten Gutes wären also auch hier ein Schlüssel zu wesentlichen Transformationen gewesen.
Zur Wasserkrise in Afghanistan, insbesondere der Hauptstadt gab und gibt es viele Hinweise und Berichte über die Jahre. Jüngst schrieben Guardian und Spiegel darüber und der in Deutschland forschende Dr. Mohammad Assam Mayar fragte vor kurzem in Thomas Ruttigs und Kate Clarks und anderen „Afghanistan Analyst’s Network“: „Afghanistans städtisches Wasserdilemma: Warum geht afghanischen Städten das Wasser aus?“
Meine Aufgabe in unserem 3,8 ha (9,4 acres) großen Altstadtviertel nördlich des Flusses beinhaltete neben Entwurf, Planung und Ausführung von Community Projekten, der ersten Polyklinik in der Altstadt auch die Tätigkeit als "Special Project Manager" für Infrastrukturen und darin explizit für eine "Nachhaltige Urbane Wasserwirtschaft". Das Zusammenbringen von rudimentärem Baurecht, Kataster-Aufbau, Altstadt-Regeneration und Ermitteln von Fallstudien zur Darstellung möglicher Interessensausgleiche in diesem Pilotprojekt und Leitung eines hochmotivierten Teams von jungen afghanischen Architekten und Ingenieuren indes zeigte denselben Ausgang wie viele gute und wichtige Dinge, die in der westlichen Besatzung 2001-2021 erfolgten.
Nach Scheitern des (Modell-)Projektes mangels für das Setzen essentiell neuer Standards erforderlicher Bürgschaften von Seiten der Weltbank und des IWF und meiner Demission Anfang Juli 2010 wurde mir immer klarer, dass irgendwann das Scheitern des Westens dort sichtbar werden würde. Und dann bahnte sich 02 / 2020 ein "Deal" an, der bald zum Auslieferungsvertrag des afghanischen Volkes an die Taliban wurde: Das "Doha-Abkommen", das der leider auch damals vom US-Bürger gewählte „König des imperialen Appeasement“ abschloss und das auch im Berliner Außenamt willfährig abgenickt wurde. Für mich als (ziviler) Afghanistan-Veteran 2009 / 10 war es klar ersichtlich, dass irgendwann dieser Tag, der 15. / 16.08.2021 kommen würde. Als es soweit war, war es schlimmer, als ich jemals es befürchtet hatte. Ich öffnete kurz meinen 02 / 2020 wegen dem ganzen Corona-Gemobbe geschlossenen Facebook-Account. Viele PMs von Freunden aus Kabul und Umgebung. Ein sehr guter Freund - ich war der einzige (westliche) Kollege, der auf der Hochzeit dieses Fahrers war: er sandte mir Fotos von den Jungs, die von der US-Maschine auf die Rollbahn gestürzt waren. Nicht die ersten zerschmetterten Körper, denen ich länger in die weit aufgerissenen Augen gesehen habe. Leider konnte ich für den Freund und Kollegen nichts tun. Enquete Kommissionen des Bundestages kommen zum Schluss des „Kollektiven Führungsversagens“ der Politik. Konsequenzen: Mir sind bisher keine bekannt.
Ich hasse es, wenn meine vorhersagenden Befürchtungen sich bewahrheiten.
Zur Machtdarstellung der Großmächte des Kalten Krieges in Stadtraum und Stadtgefüge Kabuls gibt es manche bemerkenswerten Punkte. Hier das kurz nach der Invasion aus Anlass der vom Westen boykottierten olympischen Spiele in Moskau 1980 von den Sowjets gebaute 50-m Schwimmbecken auf dem Bibi Mahroon Hügelplateau, das sich rund 70m über dem Talniveau der Stadt auf rund 1800m ü. NHN erhebt. Der 10m Sprungturm ist insofern weithin sichtbar. Beim Bau hatte man das Thema, dass Wasser nur mit komplexen Pumpwerken bergauf fließt etwas vernachlässigt. Dennoch: im Juni 2009 war zumindest der Sprungbereich mit zweifelsohne nicht ganz Badewasserqualität erreichendem kühlendem Nass befüllt. Auch ein Bademeister nach deutschem Standard war nicht zu sehen. Viele Kinder, zumal viele der Kriegswaisen in den Heimen der Stadt darunter hatten so einen Spielplatz gefunden, bei dem sie auch relativ selbständig schwimmen lernen konnten und zudem im grünen Nass reich shampoonierter Körperhygiene frönen konnten. Zum exponierten Plateau des Sprungturms geht das Gerücht, dass die sowjetischen Besatzer Verräter, oder solche Menschen, die sie dafür hielten vorne auf den Sprungturm stellten und dann von der Leiter aus exekutierten, sodass der Körper dann rund 14m tief
auf dem Grund des Sprungbeckens zerschmettert wurde.
Die US-Botschaft im Regierungs- und NATO-Viertel Wazir Akhbar Khan wurde bis 2006 zur größten Auslandsvertretung der US in der Region Zentral- und Südasien und darüber hinaus ausgebaut. Jolyon Leslie, Head of Architecture des in Asheqan wa Arefan in der Altstadt ansässigen, und von dort aus operierenden Aga Khan Trust for Culture (AKTC) erzählte mir einmal, dass die US kurz nach ihrer Invasion 2001 den Bau eines großen Veteranenheims just am Hang an der Stelle der Bala Hissar planten. Die Bala Hissar als Gründungsfeste der Stadt geht auf Alexander den Großen zurück. Weitere archäologische Forschungen dazu indes waren wie überall im Lande durch die stetige Unsicherheit eher rudimentär und auf Halt gesetzt worden. Wächter des kulturellen Erbes vor Ort wie AKTC protestierten damals auch sogleich erfolgreich
gegen diese Pläne der Bush-Administration aus DC.
Jolyon Leslie verfasste auch in „UN-Urbanismus“, einer Studie u.a. der Bauhaus-Uni zu Kabul und Mostar 2010 ein Essay zur „Umstrittenen Stadt“. Ähnlich wie Can Merey in seinem Buch vom Herbst 2008: „Die Afghanische Misere – Warum der Westen am Hindukusch zu scheitern droht“ 17 zur Komplexität der politischen und sozioökonomischen Gemengelage, warnt Jolyon hier vor den vielen, seit 2002 forcierten Themen des städtebaulichen Niedergangs Kabuls. Cans Buch diente mir neben der Dissertation von Zahra Breshna zur Stadtbaugeschichte Kabuls von 2004 als meine Einstiegslektüre in das Verständnis des Landes und der Leute in Stadt und Land im Winter 2008 / 09, bevor ich dann im Februar 2009 selbst dort arbeitete. Den damaligen dpa-, jetzt RND-Journalisten traf ich zufällig zum persischen Neujahr Nouruz am 21. März 2010 im Herzen Afghanistans, dem Hazaragat vor den (leeren) Höhlen der Buddhas von Bamiyan.
Es gab viele warnende Stimmen in den Jahren 2001-2021, die von technokratisch ignorant bis arrogant agierender Politik auf Seiten des Landes am Hindukusch und der Besatzer aus „dem freien Westen“ komplett ignoriert wurden. Can Merey und sein Buch sehen auf das Land und die Leute aus vielen verschiedenen Perspektiven nach etwa 7 Jahren der westlichen Vorherrschaft dort. Jolyon Leslies Verweise auf privatisierten und somit auf „freien Märkten“ immer stärker vom Marktwert Bodenpreis aus spekulativ explodierenden exklusiven Städtebau ohne Planung von dem Gemeinwohl dienenden und auch als solche selbstbestimmt verwaltete Infrastrukturen enden mit den Worten:
„Wo soll das alles hinführen? In mancher Hinsicht ist die spatiale, soziale und politische Auseinandersetzung, die in Kabul stattfindet ein Mikrokosmos dessen, was in ganz Afghanistan geschieht. Aber in der Hauptstadt steht besonders viel auf dem Spiel, und wenn es der Regierung nicht bald gelingt, sich mit dem Problem einer zunehmend unzufriedenen Stadtbevölkerung auseinanderzusetzen und sich den Myriaden drängender Herausforderungen endlich zu stellen, besteht ganz konkret die Gefahr, dass Teile der Stadt unregierbar werden. Die Zeit läuft davon.“ 18
Jolyon ging 2010 dann in den Iran, um dort weiter mit AKTC zu arbeiten. Es war ihm zu „waffenstarr“ geworden in Kabul und Afghanistan nach vielen Jahren dort, wie er mir sagte. Die „Generation AK“ 19, wie Stephen Dupont, junger australischer (Kriegs-) Reporter sagt, herrscht weiter in ihrer verzweifelten Not und (Bildungs-) Armut. Stephen beschreibt in seinem Fotoband auch das „seltsame“ Gefühl, wenn eine Kugel oder ein Sprengsatz just Dich zum Ziel hat. In meinem Fall war es einmal „friendly fire“. Dennoch: gerade das kann ich sehr gut nachvollziehen.
„So viele Berichte, so viele Fragen“, möchte man einmal mehr mit Bertolt Brechts Fragen eines lesenden Arbeiters feststellen. Soldaten und ihre Einsatzfolgen in Anbetracht von Beratungsresistenz und (politischem) „Kollektivem Führungsversagen“: Heike Groos, fünffache Mutter und Oberstabsärztin der Bundeswehr erlebte weitaus schlimmere Anschläge als unsereiner und musste die sterblichen Überreste ihrer Kameraden zusammenlesen. Wie ich irgendwann 2019 mit Schrecken und tiefer Trauer entdeckte, starb Heike im Dezember 2017. Ihrem Gedenken und Ihren Kindern sei dies hier einmal mehr gewidmet.
Keiner von uns war auf einem „gut bezahlten Abenteuerurlaub“ im Land am Hindukusch. Die Frage eines US-Officers und gutem Freund nach intensivem Vertrauensaufbau im (Vor-)Gespräch: Brad, der Veteran aus alter Soldatenfamilie, dessen Vater auch in Deutschland gearbeitet hatte, der das bisweilen schwerfällige Land in der Mitte Europas liebte und der nun nach erstem Einsatz als Appache-Pilot 2001 im September 2009 einen etwas ruhigeren Job als Trainer und Leiter der ANA-Flugschule bekleidete, fragte irgendwann unvermittelt:
„Warum geht hier nicht, was bei Euch funktioniert hat?“
Unser Gespräch dauerte dann noch rund 2 1/2 bis 3 Stunden fort. Als ich irgendwann 2016 vor Jusos hier den Terminus des „Bewaffneten Sozialarbeiters“ gebrauchte, da sahen diese mich verständnislos an. Brad wusste genauso wie ich, dass die größten Probleme des Einsatzes auch in den eigenen Reihen zu finden waren. Die herrschende Ideologie des „Neoliberalismus“ und die damit zusammenhängenden Kommunikationsdefizite zwischen Politik und Gesellschaft thematisierten wir nicht. Wir wussten jedoch beide sehr wohl darum.
„Kabul, ein Wintermärchen“, so betitelte ich die in einem ersten Buchvorschlag gesammelten Berichte, die ich damals, 2009/10 aus Kabul auf Zeit-Online als relativ freiem und buntem Online-Forum postete. Dies geschah unter dem Avatar Aflaton, arabisch für den griechischen Philosophen Platon, in Dari / Farsi Aflatoon. Social Media waren erst Anfang der 2010er weiterverbreitet. Das Wintermärchen weckt natürlich Assoziationen und baut Brücken zu Heinrich Heines 1844 verfasstem Gedichtzyklus „Deutschland, ein Wintermärchen“. Was Heine als Dichter, Schriftsteller, kritischer, politisch engagierter Journalist und gefürchtet polemischer Freigeist, der 1797 hier in der Stadt Düsseldorf geboren wurde und 1856 nach mehrjährigem Darben in seiner „Matratzengruft“ im Pariser Exil verstarb zu all dem sagen würde: darüber kann wie so oft nur gemutmaßt werden. Auch die Zeit-online Community und die damals wöchentlich von rund 600-700 Lesern gelesenen Berichte von Aflaton aus Kabul sind aus den feuchten Kellerverliesen des WWW. verschwunden. Die Festplatten mit den Blogdateien verstauben in den Regalen hier.
Eines meiner Lieblingsfotos der Kinder von Murad Khane in der Altstadt Kabuls von 2009 / 10 betitelte ich auch in meiner Bewerbungsmappe mit der Aussage:
„Drei meiner wichtigsten Kunden bei meiner Arbeit dort“.
Erst jüngst führte ich wieder den von mir weniger geschätzten Begriff von „Bauherr*Innen“ für das Bild der drei Schwestern, die mit ihren Eltern ein an die große Maidan-Freifläche dort angrenzendes Hofhaus bewohnten ein. Wie bei so vielen Menschen dort in Afghanistan, in dem zudem jetzt die Taliban 2 die Internet-Kommunikation abgeschottet haben, fragt man unwillkürlich sorgenvoll, was wohl aus ihnen geworden ist.
Auch eine weitere Verschärfung der Wasserkrise der afghanischen Hauptstadt und ihres Umlandes ist mit Extrapolation einiger Faktoren absehbar. Anhand von globalen geopolitischen Rohstoffkonflikten zwischen China und dem Westen und dem allgemeinen Rohstoffhunger, einem weiteren Grundkonflikt des archäologisch kaum weiter erschlossenen kulturellen Erbes, auf das der Westen sich an diesem Ort fokussierte und natürlich dem Devisenhunger des laut Fragile State Index „2022 FSI dunkelrot = großer Alarm“ weiter mehr als „prekarisierten“ Landes auch unter der Herrschaft des Taliban 2 Regimes ist dies deutlich darstellbar. Die unter „Kollektivem Führungsversagen“ nicht wirklich leidende Politik hat aber an transdisziplinär zusammengebrachtem Fachwissen auch später, im Zuge der eigentlich erforderlichen Aufarbeitung kein wirkliches Interesse. Man scheint eher daran interessiert zu sein, mit den Taliban 2 „Abschiebungspartnerschaften“ bis hin zum Sinne der
„letztlich zu Ende zu denkenden Remigration“ auszuarbeiten.
f) Kurze Synopsis zur Ukraine und Europa
„Grüner Kolonialismus“ 20 hat viele Facetten. Die Augen davor zu verschließen geht zumeist auf Kosten derjenigen, die diesem (willfährig ignorant) ausgesetzt sind. Letztlich bedarf es aber immer wieder des Aus- und Verhandelns der Dinge und der Themen. Dafür ist ein vielschichtiger Fundus von Infra-, Intra-, Inter- und transdisziplinären Wissen und entsprechende Erfahrung und: das Interesse an den Themen erforderlich. Ein genaueres Hinsehen und Hinhören und dem folgendes Abwägen eigener Handlungs- und Interaktionsoptionen zudem.
Perspektivisch dürften gerade einmal mehr die osteuropäischen Themen hier im Kontext mit Post-Konflikt-Geschehnissen und ihren Erfordernissen 21 interessant sein. Der hier Eingangs genannte diesjährige Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels Prof. Dr. em. Karl Schlögel zeichnet sich als Historiker ja auch dadurch aus, dass er den Raum in und mit der Zeit betrachtet. Seine Stadtbetrachtungen von Kiew, Odessa, Jalta, Charkiw, Dnipropetrowsk, Donezk, Czernowitz und Lemberg (Lwiw, Lwow) in „Entscheidung in Kiew – Ukrainische Lektionen“ 22 haben mir als Architekten mit Vertiefung Städtebau und Stadtbaugeschichte diese Orte überhaupt einmal nahe gebracht.
Wann und wie WIR da dem Abschlachten in Osteuropa wirkliche Friedensoptionen entgegenstellen können: das liegt auch an der Lernfähigkeit und damit der in diesem Sinne aufzubauenden Fähigkeit zu synergetischer (transdisziplinärer) Zusammenarbeit in Europa. Das Überwinden ideologischer Halsstarrigkeiten indes, um überhaupt Aufbauchancen für eine mögliche Nachkriegsordnung zu ermitteln, ist dabei genauso wichtig. Die Wehrhaftigkeit indes, um wirklich in Verhandlungsoptionen zu gelangen: auch dafür bedarf es vieler hier genannter Maßnahmen. Bisher überwiegt da noch eine bisweilen sehr müde und matt erscheinende Trägheit.
Diese indes können WIR uns nicht mehr so lange leisten.
Als letzter Hinweis dieses langen Kapitels zu Fremd- und Selbstbestimmung von Städten nach und in Transformationen und den entsprechenden Konflikten am Beispiel Palermo und Kabul noch einmal ein kurzer Blick in Goethes „Land, wo die Zitronen blühen“, in die sizilianische Hauptstadt: Die Tatsache, dass in Palermo nach den Mafiakriegen der 1980er / 1990er die „Kriminalität sank, und heute liegt Palermo in der Verbrechensstatistik nicht mehr unter den 15 ersten Städten Italiens, sondern gilt als die sicherste Stadt Italiens“ ist auch ganz sicherlich der dortigen Staatsanwaltschaft und damit auch dem Erbe von Giovanni Falcone und Paolo Borsellino zu verdanken. Die funktional stabilste Säule der Gewaltenteilung. Ohne offene und mutige Prozesse top-down meeting bottom-up und also Pentiti wie Leoluca Orlando als Sindaco im Rathaus in Palermo indes wäre das unmöglich gewesen. Ohne das wird es auch in Kabul (irgendwann bald einmal) und in Kiew (eher) nicht funktionieren. Das Problem in Europa sehe ich persönlich da weniger auf der Seite von Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew.
Zumal der Rohstoffaspekt verdeutlicht einmal mehr, wie essentiell der Aufbau einer wirklich transparenten und partizipativ strukturierten Recyclingwirtschaft ist. Dies betrifft fast alle von der so genannten „Deindustrialisierung“ betroffenen Sparten und Zweige. Um dies zu starten indes bedarf es des Umdenkens, das in der derzeitigen (verordneten?) Trägheit nicht vorgesehen zu sein scheint. Und es bedarf der nötigen Investitionen, die auch weitergehende Planungssicherheiten ermöglicht. Dies betrifft noch einmal das vermeintliche Dogma der Schuldenbremse und eine Zukunftsfähigkeit jenseits von fossilen Brennstoffen und damit ungebremstem Klimawandel und Ausplünderung des Planeten.
Was Trump davon hält indes, das hat er ja gerade auch im Hinblick auf Deutschlands Gefolgschaft
auch vor den UN neben vielen anderen Themen deutlich gemacht.
g) Sein und Streit weiter:
Das Kleine im Großen und Ganzen
Einzelne Kunstwerke und die Betrachtung gemeinsamer Linienführungen darin vermögen im Sinne der
„Ästhetik des Widerstands“ 1 durchaus Rückschlüsse auf weitere zeitliche Verläufe und damit Linienführungen zu ermöglichen.
Gleichwohl soll hier aber auch auf verlorene Kunst und Parallelen zu jüngst entdeckter Kunst hingewiesen werden.
Oftmals offenbart das Leben immer wieder ein Wiederfinden. Auch von oft völlig verloren geglaubten Dingen
und Menschen und ihren Werken.
Die drei Kalligraphien hier hatte ich im Frühjahr 2009 in Kabul von einem Hazara, einem Schiiten also aus dem Hazaragat, dem „Herzen Afghanistans“ mit dem Künstlernamen Ali Baba Orang gekauft. Pinselstrich und alles Weitere erinnerte mich an Jackson Pollock und andere sehr frei agierende, eher im weitesten Sinne abstrakte Künstler. Ein befreundeter Schriftsteller, der Brite Paul Pickering hatte ja auch in seiner Adaption des Zauberers von Oz auf das westliche Besatzungsgeschehen in Afghanistan „Over the Rainbow“ 2012 den bemerkenswerten Satz geprägt:
„Nun, wenn man alle Widersprüchlichkeiten des Landes betrachtete, dann gab es da eine überwältigende Freiheit. Und das war das große Problem der Politiker. Wie bringt man Freiheit zu Menschen, die diese bereits im Überfluss haben?“ 23
Abgesehen davon hat mich die Schriftkunst gerade im Arabischen und Persischen, aber auch im
Chinesischen immer fasziniert und mich auch zum Lernen der Sprachen und der Kalligraphie gebracht.
Die „Tornado-Kalligraphie“ rechts bildet ein Gedicht von Tabib Isfahani, einem Arzt aus der gleichnamigen
persischen Stadt vom Beginn des 19. Jahrhunderts ab:
„Wenn Du von mir weggegangen bist, werde ich so sehr weinen,
dass der Boden völlig aufgeweicht ist und die Kamele
nicht mehr darauf gehen können.
Mach mein Herz nicht so traurig, dass dieser wilde Vogel,
der einst vom Dach weggeflogen ist, nicht
an denselben Ort zurückkehren wird.“
Auf der linken Seite ist die „Nadelöhrkalligraphie“. Weniger ungestüm als die alles verwirbelnde Tornadokalligraphie – aber auch mit einer tiefen Eigendynamik, die in ihrer Zentriertheit und Symmetrie sehr viel mehr Ruhe ausstrahlt als die alles verwirbelnde und in einen tiefen Schlund am Bodensatz des Bildes herniederreißende Tornadokalligraphie. Auch hier ist es
wieder ein Gedicht, das der Künstler darstellt – ein Volksgedicht:
„Die liebe Shirin saß vor dem Haus und nähte
und sie steckte den Faden in den Mund und der Dichter sagt:
Ich wünschte, ich könnte dieser Faden sein...“
Die dritte Kalligraphie in der Mitte ist die Einzige hier, die zweifarbig ist. Der Künstler hat hier schwarze und rotbraune Tusche verwandt. Der Dichter Sa’ adi Shirazi vergleicht darin seine Liebe mit einer immergrünen Zypresse und sagt:
„Die Wurzeln des Baumes sind zwar in der Erde,
aber ihre Wurzeln sind in meinem Herzen.“
Bald nach Erwerb der Zeichnungen ließ ich sie von einem befreundeten Schreiner in unserer NGO rahmen. Ich war noch zuversichtlich, dass unser „Modellprojekt für städtische und ländliche Räume“ erfolgreich sein würde und wir somit auch ein Konzept zu einem wirklich an den Bedarfen der Mehrheiten der Menschen orientierten beginnenden systematischen Wiederaufbau des Kriegsgeschundenen Landes beisteuern und weiter transferieren konnten. Dass ich dafür bald Personenschutz bräuchte indes wurde mir auch immer deutlicher. Dennoch: die größte berufliche Herausforderung meines Lebens möchte ich trotz des schmerzhaften Scheiterns nicht missen. Zumal gerade die vielen Geschichten, die ich in Afghanistan gehört und erlebt habe mich an meine eigene Familie und deren Überlebenskunst insbesondere im
2. Weltkrieg erinnert haben und ich da durchaus eine positive Rezeption und Konnotation finden durfte.
Wie dem auch sei: ich wollte Rahmen und Verglasung nicht zerstören und ließ nach meiner Demission / Scheitern des (Modell-) Projekts der „Nachhaltigen Urbanen Wasserwirtschaft“ mit dem Berliner Büro IB Kraft Anfang Juli 2010 die Bilder bei meinem klügsten (Junior-) Ingenieur, der sie bei seiner Familie einlagerte. Zumal er dann auch bald in die US emigrierte ist der Verbleib der Bilder jetzt eher unklar. Schicksal. Die Ungewissheit über Sicherheit und Perspektiven, Verbleib vieler Freunde,
Partner und Kollegen dort im Land am Hindukusch ist schlimmer.
Gerade Julie Merethus Bild Acryl und Tusche auf Leinwand „Aufstieg der neuen Suprematisten“ 24 erinnerte mich jüngst unwillkürlich an die „Tornado-Kalligraphie“ Ali Baba Orangs. Die Unterschiede jetzt bei erneutem Hinsehen sind offensichtlich. Dennoch ein schönes Wecken von Assoziationen und Verknüpfungen an etwas Schönes, was verloren zu sein schien. Das Neu-Entdecken ähnlicher Schönheit vermag den Schmerz über den Verlust des Vergangenen zu lindern.
(Zweck-) Pessimismus und manchmal nicht minder eher zweckfrei erscheinender, geradezu im allgemeinen Duktus verordneter Optimismus maximaler Verdrängung vermögen bisweilen in solchen Momenten zu einem nüchtern kathartischen Realismus zu führen. Die „fröhliche Wissenschaft“ des „Etwas Besseres als der Optimismus“. 25 Der Realismus, der schon lange dem vermeintlich so hehren Idealismus trotzt. Jener so als Monstranz hoch gehaltene Idealismus, der die gewaltigen Abgründe zwischen Theorie und Praxis immer wieder leugnet und zu verheerenden Umsetzungsdefiziten führt. Dessen Vertreter dann in ihrer Verdrängung Projektionen der Verantwortung für alltägliche Katastrophen des Scheiterns scheinbar unwillkürlich neu zu verorten suchen. Der „Aufstieg des Realismus“ 26 von deLanda und Harman, der sich auch in dem klugen Satz Aladin El-Mafaalanis verifiziert:
„Wenn alle pessimistisch werden, wirkt der Realist wie ein Optimist"
Weil dieser Realismus den Konflikt nicht scheut, sondern weiß, dass es viel Arbeit und Mühen bedarf und noch mehr Kommunikation und Vertrauensaufbau auch im gegenseitigen Auf- und Abbau von maximalem Misstrauen, um die Trümmer der vielen alltäglichen Überforderungen zu überwinden. Für ein gegenwärtiges Über- und Weiterleben auch der Nachgeborenen.
Ali Baba Orangs Kalligraphien vielleicht in einem feuchten Keller in Kabul, vielleicht gebrandschatzt und zerstört: Ein Druck der 180x320cm messenden, mit Acryl bemalten Leinwand „Die Pferde“ von einem meiner besten Freunde hängt jetzt hier in der Küche. Als Walter Padao das Bild in der Pandemie 2020/21 hier in seinem Atelier malte, da sinnierten wir öfters gemeinsam davor. Die große Glocke links hinten, die ausbrechenden drei weißen Pferde vorne: „For whom the Bell Tolls“ – „Wem die Stunde schlägt“ von Hemingway war meine erste komplette (Schul-) Englischlektüre seinerzeit gewesen. Der rote Pferdekopf dahinter, die Scheuklappen, der schwarze Hintergrund, grauer Rand, verstaubter Horizont im Einerlei des aufgewirbelten Drecks, Vergangenheit, Gegenwart, Galopp und Ausbruch in welche Zukunft auch immer, Bedrohungen und Verheißungen: es gibt fundamentale Unterschiede in Walters und meinen Denkweisen. Freundschaft und Demokratie müssen das aushalten. Letztlich markiert das scharfkantige Sucherrechteck in der Bildmitte nur einen möglichen Fokus.
Einen möglichen Moment, der hier im Bild festgehalten ist.
Walter erlebte und erschuf zuletzt ein einmonatiges Künstlerstipendium in Trappeto bei Palermo. Er brachte mir Danilo Dolci, den dort aktiven Kollegen näher. Einen der vielen „Helden des Alltags“, die man erst auf den zweiten Blick
entdeckt und weiter zu würdigen vermag. „Ein sizilianisches Schicksal“.
„Ästhetiken des Widerstands“ 1 vermögen auch Momente des Für-Etwas-Stehens zu wecken. Fixpunkte für das Wiederfinden des Verloren Geglaubten. Ausgangspunkte für neue Aus- und dann auch Aufbrüche. Viel Arbeit in jedem Falle. Aber auch viel Freude. Nichts macht man und entsteht alleine für sich. Im Vergehen, im freien Fall gibt es manche (Un-) Gewissheiten wiederzubeleben. Das Bereitsein dafür alleine erschließt, was Zukunft sein könnte. Gegenwärtiges Handeln.
Anmerkungen
© für die dreibändige Ausgabe in einem Band Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1983.