Planetarische (Bau-) Wenden
und der unilaterale Rechtsstatismus
15.11. 2025 ca. 21 min. Lesezeit
Die Ambivalenz ist zweifelsohne ein Wesensmerkmal der Wende. Des Übergangs und der Transformation. Die Metamorphose bezeichnet einen zumindest ähnlichen Vorgang. Der zu Augustus Zeiten um Christi Geburt, also vor rund 2000 Jahren lebende römische Dichter Publius Ovidius Naso, kurz Ovid löst letztlich in seinem universalhistorischen Hauptwerk auch uns heute bisweilen grausam erscheinende Geschehnisse am Ende in Metamorphosen auf. Die Erzählungen vermögen diesen Prozess der möglichen Konfliktlösung auch in ihren vermeintlichen Dichotomien eben zwischen Transformationen und verschiedenen Verwandlungszuständen, den Metamorphosen darzustellen. Der im Akt der Verwandlung sich darstellende Verpuppungszustand der Kaulquappe als Larve des Froschlurches und des Schmetterlings als Raupe im Kokon des „Nicht-Fisch-nicht-Fleisch-Seins“ ist jedoch weder Dichotomie, noch Oxymoron.
„Rechtsstatismus“ ist insofern ein Terminus, der bewusst mit den durch die vordergründig falsche Schreibweise erzeugten Ambivalenzen spielt. „Statik“ oder die „Stase“ als Stillstand, aber auch als zunächst der Schwerkraft in verschiedenen Lastfällen folgende wirksame, also irdische, auf dem Erdboden wirkende, zumeist aufrecht stehende Kraft stecken genauso darin wie der „Staat“, der aber per se hier ja mit einem a geschrieben wird, um eben diese Doppeldeutigkeit überhaupt zu implizieren. Das Adjektiv „unilateral“ evoziert darin zudem noch einmal synergetisch den inneren Konflikt der Einseitigkeit der Betrachtungen von Dingen und Menschen in Transformationsphasen und ebensolchen -prozessen. Also eben jenen Metamorphosen, bei deren Betrachtung so nicht einmal die eher als „bipolar“ zu bezeichnende Dichotomie wirklich auf Anhieb wahrnehmbar wird. Und, das sollte ja auch deutlich werden in dieser Wortwahl: die Worte genügen der Komplexität dieser Vorgänge nicht. Ist es also erforderlich, den Blickwinkel darauf zu verändern? Erfordert also eine eingehendere Analyse des Gesagten und Geschehenen eine Bewegung der Betrachter*in? Des Gesagten und Geschehenen in der Vergangenheit wie auch des Gegenwärtigen, das ja auch bald schon zukünftige Vergangenheit ist?
Ruth Benedicts 1946 abgeschlossene ethnologische Studie zu „Scham- und Schuldkulturen“ nach Ende des Pacific War anhand des japanischen Kriegsverlierers mag auch für sie selbst als so deklarierte Vertreterin des „Kulturrelativismus“ Momente der Wahrheit und ihrer Beständigkeit gehabt haben. Gleichwohl war sie vom Kriegsgewinner, den US selbst 1944 beauftragt worden, den bald demütig nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki darnieder liegenden stolzen japanischen Ethos zu erforschen. Insofern ist auch hier eine Asymmetrie der Kommunikation per se gegeben, die zunächst nur ein statisches Bild als Momentaufnahme darzustellen vermag. Die „Entwicklung“ - Bruno Latour würde gerade hier einmal mehr die „Einwicklung“ 1 für den Kokonbehafteten Moment der Metamorphose bevorzugen: sie kann hier nur perspektivisch anhand verschiedener zu projizierender, also zukünftiger potentieller, insofern bis zu einem gleichfalls zu ermessenden (un-) gewissen Grade spekulativer Ent- oder eben: Einwicklungsstränge vorgenommen und dargestellt werden.
Bassam Tibi als 1944 in Damaskus geborener syrisch-deutscher Sozial- und Politikwissenschaftler auch aus der Frankfurter Schule und Thomas Hylland Eriksen (1962-2024) als norwegischer Sozialanthropologe, der seinen PhD. in und über Trinidad und Mauritius machte, kritisieren insofern von ganz unterschiedlichen Warten aus jeglichen Kulturrelativismus und die damit verbundenen oder zumindest evozierten ethisch-moralischen, normativ beugsamen Grundhaltungen. Gerade Eriksen betont, dass die „Globalisierung“ bei diesen Themen eine klare und unmissverständlich orts- und zeitgebundene, letztlich in sich beständig gefestigte Haltung erfordert. Es gibt unveräußerliche und universell gültige Werte und Rechte. Auch wenn sie jeden Moment irgendwo auf der Welt verletzt und geschändet werden. Punkt.
Es sind also alle Stadien der Metamorphosen entsprechend zu betrachten und zu würdigen. Und als Zwischenstadien in weiteren Veränderungs-, Ent- oder eben Einwicklungs- und Enthüllungsprozessen genauer zu analysieren. Der eigene Ethos jedoch, der sich per se im persönlichen Eidos, in Husserls Sinne also im Wesen der Betrachter(in) festigt und im Laufe gelebten Lebens im täglichen Sein als gemachte Erfahrungen um den Kern, das Innere, vielleicht gar: die Essenz des Menschen anreichert, ist dabei Conditio sine qua non des und der Seienden. Just dort jedoch, im metamorphen Werden des und der Seienden verflüchtigt sich die bedingungslose Kausalität. Subjekt und Objekt verschmelzen und bleiben doch bei genauerem Drehen und Wenden der Dinge und Menschen verschiedene Entitäten. Nur so vermag das Subjekt des und der Erzählenden sich vor Überfrachtung des eigenen Wesens zu schützen. Heideggers Sein und Zeit ist per se also Sein in und um Momente Zeit versetztes Sein außerhalb des Moments der Hier und Jetzt-Zeit. Diese Transzendenz indes ermöglicht dem und der Erzählenden ein (Über-)leben in der physisch-materiell wie metaphysisch immateriell immer werdenden und damit oft dem und der Einzelnen grausame Schmerzen verursachenden Welt. Die „Schrammen in der Seele“: die emblematische Aussage, die hier auch der letztlich todkranken Künstlerin und Freundin, wahrscheinlich eher bewundernden Schülerin von Käthe Kollwitz zugeschrieben wurden. Die maßgeblich in den 1910ern und 20er Jahren sozialisierte Bildhauerin Else Haney bildete und formte mit ihren Händen in ihren Terrakotta-Skulpturen gleichfalls hoch realistisch Dinge und Menschen in alltäglichen Daseinskämpfen und bei harter körperlicher Arbeit Formen des Expressionismus folgend ab. Die Aussage, die sie 1984 als präfinale, also unmittelbar „dem Tod geweihte“ Patientin einer Onkologischen Station einer Klinik in Koblenz machte, resultierte aus dem Verlust ihrer manuellen Fähigkeiten durch den Hirntumor, der so ihren Geist und ihren Körper zerstörte. Sie möge in Frieden ruhen.
Als ich mit 22 Jahren 1986 zum ersten Mal an einem Flughafen in Brüssel auf den Abflug eines Flugzeugs, das mich an einen anderen Ort bringen sollte wartend saß, hatte ich keine Ahnung, was mich in Algier, meinem Ziel erwarten würde. Der Nachtzug von Koblenz, wo meine Eltern wohnten nach Bruxelles, am Tag zuvor von Heidelberg, wo ich meine erste Berufsausbildung machte, Sachen packen, dann Ankunft in der belgischen Hauptstadt, Weiterfahrt zum Flughafen, einchecken. Der Morgen dort im Terminal. Die Frage, wo und was die Menschen hier am nächsten Tage frühstücken würden, die mich die ganze Zeit dort wartend umtrieb. Die Ansagen und Anzeigen ferner Flugziele: Ferne Welten, zu denen ich (noch) keinen wirklichen Bezug hatte. Der Blick des Heranwachsenden, der meint, dass alles so sicher ist wie seine Herkunft. Der Platz ganz hinten im Flieger, einer dröhnenden Boeing 737, unmittelbar neben den Triebwerken dieses Donnervogels. Kopfschmerzen beim Aussteigen. Ein Bruder Hocines, der mich aufgabelte. Die Fahrt mit dem Zug weiter nach Westen, Richtung Marokkanische Grenze nach Sidi Bel Abbes.
Das Hofhaus oben mit dem flachen Bau rechts, dem „Haus der Brüder“, wo ich mit den acht anderen Söhnen meiner Gastfamilie lebte, daneben die Wellblechwand in Arzew, wo mich einer meiner Brüder mit seinem Imam zusammenbrachte, der kleinere Sohn der geschiedenen älteren Schwester auf dem Dreirad vor unserem Eingang, die beiden Schwestern und die Schwägerin, Frau des ältesten Sohnes, der im zweigeschossigen Haupthaus oben mit Familie und den Eltern wohnte, ein gemeinsames Essen draußen im Hof mit vier der Brüder: ich weiß nicht, was mit diesen Menschen geworden ist. Ich weiß, dass ich ihnen unendlich dankbar bin für alles. Die Mutter der Familie, die mir in ihrem Heiligtum, ihrer Küche die Zubereitung ihres Couscous gezeigt hat, die ältere Schwester, die eine der stärksten Damen war, denen ich in meinem ganzen Leben begegnet bin, Miloud auf dem Foto mit den vier Brüdern links, mit dem ich zur Hauptstadt der Pentapolis der M’Zab nach Ghardaia und El Meniaa, früher El Golea, der „Stadt der einhunderttausend Palmen“ und weiter nach Timimoun, der „roten Oase“ gefahren bin, Omar hinten, der mich an seine Uni in Oran mitnahm, Mohammed, der mich zwei Jahre später in Heidelberg besuchte und Abbes, der an einem Sonntag im mit den Brüdern und Freunden und Transistorübertragungen von Fußballspielen und lauten Telefonaten mit Familie in Marseille angefüllten Raum ohne Airpods oder ähnliche Stöpsel in den Ohren in aller Seelenruhe für sein Zahnmedizin-Examen büffelte. Miloud starb im Bürgerkrieg in den 1990ern. Auf der Rückfahrt von seinem Arbeitsort, den Gasraffinerien von Hassi Messaoud hatten er und sein Freund und Kollege einen Unfall mit einem Militärkonvoi. Ich kann mich noch gut an den Brief meines ersten Bruders Hocine erinnern. Seine Wut ob der Triage: die Soldaten wurden zuerst behandelt, die zivilen Opfer, darunter auch unser Bruder Miloud verbluteten am Wegesrand. Der Tod der Mutter bald darauf: die Trauer und der tiefe Schmerz Hocines werden mir immer in Erinnerung bleiben. 1997 besuchte ich ihn noch in einem Vorort von Paris. Anfang der 2000er Jahre verloren wir uns aus den Augen. Ob Omar irgendwann in den Turbulenzen und Wirren algerischer Geschichte nach 1990 zum „Islamisten“ wurde: ich weiß es nicht. Er hatte sicher am meisten unter allen Brüdern diese Tendenz. Etwas anderes, eine Schlüsselaussage Hocines indes werde ich gleichfalls nie vergessen: er schrieb dem Westen, den er in der alten Kolonialmacht Frankreich, wo er auf Sommerfreizeiten behinderte Menschen betreute immer wieder erlebte, den größeren „Individualismus“ zu. Auf der anderen Seite des Mittelmeeres indes, seiner Heimat verortete er den stärkeren „Kollektivismus“.
Prämisse des Globalen und Transformation zum „Planetarischen“ im Denken und Handeln von und mit und über Menschen und Dingen etwa im Sinne Dipesh Chakrabartys 2 , also zu offeneren dialogischen Umgangsweisen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften indes erfordern geistige und körperliche Migrationen. Die Transformation der Rechtsstaatlichkeit indes als wesentliche zivilisatorische Errungenschaft nach der Katastrophe des 2. Weltkrieges macht diese Perspektivwechsel auch zwischen vielen verschiedenen Rechtsbereichen aus.
Ruth Benedict ordnete in ihrer im Krieg 1944-46 erstellten ethnologischen Schreibtischstudie „Chrysantheme und Schwert“ die Scham eher dem kollektiv daniederliegenden Land des Kriegsverlierers Japan, die Schuldkultur eher dem westlichen, „individualistisch“ geprägten Kulturraum zu. Ihre Prämisse der Betrachtung von Kulturen per se als „einzelne Ganzheiten“ mit „enormer Variabilität von Werten“, die „nur von innen heraus begriffen werden können“ indes verdeutlicht den auch ihr bewussten erforderlichen Perspektivwechsel. Zumal nach dem Paradigma des „Clash of Civilizations“ von Samuel P. Huntington, der im Deutschen als „Kampf der Kulturen“ übersetzt wurde, sind viele Begriffe neu zu bestimmen und etymologisch tiefer in ihren Kokon- und Larvenstadien zu verorten. Auch eine Relektüre und Neubesprechung von Max Webers „Protestantischer Ethik“ und dazu vor allem seiner und Walter Benjamins Definitionen der Weltreligionen und dazu einer „Konfuzianischen Ethik“ ist in diesem Kontext erforderlich. Ein Steinbruch an Forschungsarbeit, was ja ohnehin Max Webers reichhaltig schöpferisches Forscherleben charakterisiert. Alleine die Etymologie der Begriffe „Latscha“ in Hindi / im Sanskrit, „Haya“ in dem von den rund 15 % Moslems in Indien und in Pakistan gesprochenen Urdu, „al Hay“ hin zu „al Halim“ im Arabischen für Scham und Bescheidenheit, aber auch für Barmherzigkeit und den oder die Barmherzige(n) selbst: am Ende des Kampfes der Kulturen stehen auch neue, letztlich „planetarisch“ die Begriffe in ihrer weitergehenden transformativen Transzendenz bestimmende Perspektivwechsel der Kulturwissenschaften an. 3
Die ecuadorianische Klimaforscherin und Aktivistin Ivonne Yanez und ihre brasilianische Kollegin Camila Moreno konstatieren unter der Kapitelüberschrift „Leitlinien für eine neue Klimapolitik“, dass „seit dem Pariser Abkommen 2015 Klima- und Klimafinanzierungsagenda sowie die Entwicklungsagenda im Bezugsrahmen der Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (SDGs) miteinander verschmolzen“ sind. Ein „Sichtbarmachen der Natur für das Kapital“, das die beiden in dieser, dem Stern-Report 2006 folgenden ökonomischen Assimilation in der „Green Economy“ 4 sehen, führt unweigerlich zum ersten Akt des Verschleierns, in der Folge dann zum Leugnen und drittens zum Akt des Unsichtbar-machens unmittelbarer Folgen des Verfehlens der Klimaziele und noch schlimmer: des aktuellen Raubbaus an dem Planeten „wider besseren Wissens und Gewissens“ durch federführende Akteure. Die „Naturgesetzlichkeit des anthropozentrischen Rechts auf Verschmutzung“ des „Planeten als Untertan“ kapitalistischen Tuns, zumal evangelikal und mit vielen Verbündeten aller Religions- und Nationszugehörigkeiten unilateraler Exegese „protestantischer Ethik“ folgend wird so zum „marktbasierten Automatismus“.
Auch Yanez und Moreno arbeiten weiterhin die fehlende gesellschaftliche Beziehung der „marktbasiert im technisch-wissenschaftlichen Duktus“ verwandten, insofern autonom vom gesellschaftlichen Sein von Menschen und Dingen und ihrem eigenen kulturellen Erbe auf den Böden losgelösten Begriffen „Dekarbonisierung“ und „Klimaneutralität“ heraus. Sie beschreiben jedoch gleichfalls die Modelle und Berechnungsformeln, letztlich die technischen Instrumente, die zum Erzeugen von Rechtssicherheiten der federführenden Akteure im globalen und jeweils (supra-) nationalen „Emissions- und Verschmutzungsrecht-Handel“ entwickelt wurden: ITMOs, RCPs und SRES sind da entsprechende Kürzel. 5
Letztlich evozieren die beiden Autorinnen insbesondere in Bezug zu anderen Beschleunigungsformen im Zuge des expandierenden Extraktivismus von Rohstoffen und der damit einhergehenden Zerstörung indigener, mit dem Boden und seinem kulturellen Erbe zutiefst verwurzelten Lebensformen von Menschen und ihren animalisch wehrlosen Gefährt*innen und Dingen, dass es für die Instandhaltung von Beziehungen zum Planeten Erde der Anerkennung der Vielfalt der Sprachen und der Benennungen von eben diesen entsprechenden (Ver-) Bindungen bedarf. Insbesondere dort treffen sie auf Architekt, Urbanist und Medientheoretiker Paul Virilio, den Begründer der Dromologie als Lehre von der Verformung von Raum und Zeit durch Beschleunigung. Auch wenn ich ihn persönlich nie erlebt habe, möchte ich ihn hier als einen meiner wichtigsten Lehrer bezeichnen. Letztlich treffen hier „Indigenialität“ 6 und „Rasender Stillstand“ 7 aufeinander. Die Kollision indes der dem zugrunde gelegten Denk- und Handlungsweisen erfordert sprachliche und verfahrenstechnische, gleichfalls rechtssichere Beziehungsarbeit. Dies gilt es, weiter zu vertiefen, um Territorien und Rechte von Menschen und ihren animalisch wehrlosen Gefährt*innen und Dingen aus dem Würgegriff auch digitalisierter Kontrolle und Überschichtung zu befreien. Einmal mehr eine Herausforderung an „kulturelles Erbe als Summe planetarisch wesenhaft rechtlicher Beziehungen (ab-) bildender und vermittelnd schützender Entitäten“.
Das hier nun evozierte „Universelle“, besser generell kategorisiert als „Universalität“ indes im „Planetarischen“ birgt per se ja auch die große Gefahr eben wieder des „Kulturrelativismus“. Und damit der unverbindlichen Beliebigkeit, die also wieder Beziehungslosigkeit zum Ergebnis hat. Eine fatale Gefahr, die letztlich viele Offensiven gegen herrschende Narrative der Verschleierung, der Leugnung und des komplett Unsichtbar-machens auch von Verursacherprinzipien zu Fall gebracht hat. Die darin immanente Verantwortungsverschiebung, die letztlich zu einem stetigen Prozess der Täter-Opfer-Umkehr geführt werden soll indes ruft auch zwangsläufig eine „Ästhetik des Verschwindens“ 8 hervor, um hier einen anderen Titel von Paul Virilio einzuführen. Die Spuren der Schändungen sind immer sichtbar. Sie sollten jedoch zumal in solchermaßen beschleunigten Zeiten simultan aufgedeckt werden. Wozu denn auch die mediale Macht der Verbreitung gehört. Ein Dilemma indes des Ohnmachts- und Katharsis-Empfindens vieler Menschen in von einigen wenigen Herrschern besessenen Datenakkumulationen der so genannten sozialen Medien.
Die umfangreichste, präziseste und gleichzeitig akzentuierteste Besprechung von „ANFÄNGE – Eine neue Geschichte der Menschheit“ des viel zu früh verstorbenen großartigen US-Anthropologen David Graeber (1961-2020) und des britischen prähistorischen Archäologen David Wengrow (*1972) 9 von Seiten des Basler Lehrers für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftswissenschaftler Axel T. Paul gipfelt in Kapitel 4. Unsere gar nicht so kleine Stadt in der zweifelsohne pointiert scharfen Aussage: „Graeber und Wengrow sind historische Idealisten“. Gerade die Stadtentwicklung und damit die Synthese von öffentlichen und privaten Kulten und religiösen Praktiken intra und extra domu, also im privaten und / oder im öffentlichen Raum vernachlässigen die beiden Autoren. Auch andere Zusammenhänge zwischen Raum und Zeit und sie überschichtenden, verwerfenden und un- und umgestalteten Herrschaftsstrukturen in „Stadtbildern“ lassen die beiden in ihren schönen und lehrreichen, aber leider häufig viel zu stark idealisierenden Erzählweisen außen vor. Gewalt und Rassismus als schöpferische Zerstörungskraft indes, der der unbändige Freiheitswille auch indigener Kulturen durchaus gleichsam chancenlos gewaltsam immer wieder entgegentritt: dort sind eigentlich viel weiter realistisch zumal im Hinblick auf (A-)Symmetrien jeglicher Kommunikation auch in kriegerischen Konflikten und (Kultur-) Kämpfen reichende Betrachtungen erforderlich. Zumal noch einmal verstärkt in (Macht-) Zentrum- versus Peripherie-Konflikten auch zwischen Bauern und agrarischen und Städtern und urbanen Lebens- und Ertragsweisen. Letztlich habe ich das Buch auch ungefähr zeitgleich mit Dieter Langewiesches Moderner Kriegsgeschichte vom „Gewaltsamen Lehrer“ 10 und Adom Getachews Postkolonialer „Welt nach den Imperien“ 11 gelesen. Erdung ist für soziokulturelle Studien immer wieder dringend erforderlich. Und auch der „Idealismus“, den Manuel deLanda und Graham Harman ihrem „Aufstieg des Realismus“ 12 gegenüberstellen, enthält ja immer wieder idealisierte Falltüren für die beabsichtigte Schismogenese des auf dem Boden der Tatsachen stehen wollenden Realismus gegenüber dem so als illusionär in den Wolken schwebend empfundenen Idealismus.
Wir finden uns immer wieder auf dem Boden der Tatsachen wieder. Und dieser Boden ist bei genauerer Betrachtung so vielfältig und reichhaltig besiedelt, dass universelles „marktbasiertes“ Treiben und Tun in seinen rechtsstatischen Verflechtungen dringendst wirklich entlarvt werden muss. Dass den „Alternativlosigkeiten“ global marktbasierten Ablasshandels in lokalen wie planetarischen Maßstäben entschieden mit klügeren und nachhaltigeren Praktiken entgegengetreten werden muss. Die Theorie indes bahnt ja überhaupt erst Wege für das praktische Handeln.
Alleine die Typologie des nordafrikanischen Hofhauses, hier etwa 13 Jahre später um die Jahrtausendwende herum beim Besuch von Familie von Freunden in Marrakesch ist so reichhaltig, dass man bisweilen sich beim Anblick der überregulierten Einförmigkeit des „marktbasierten Städtebaus“ allerorten die Augen reibt. Als Beamtensiedlung in der marokkanischen Metropole veranschaulicht diese verdichtete Hofhausbauweise in der Reihenhaussiedlung zumal auch eine Form von „bezahlbarem Wohnraum“ maghrebinischer Herkunft mit dem innenliegenden Patio.
Auf den Böden der Tatsachen sind viele Kämpfe neu auszuloten. Die „Abriss-Anstalt“ thematisiert das klüger als manche technokratische Politiker in ihrem illusionistisch aktivistischen Idealismus und verweist nicht nur in manchen Nebensätzen auf die Rückräume für marktbasierten „Business as Usual“, die sich da ankündigen mit dem Bauturbo §246e BauGB. „Nachhaltigkeit“ wird so einmal mehr zum inhaltsleeren Schlagwort. Das neudeutsch gentrifizierte „buzzword“ ist aber auch ein „hoax“. Zumal im völlig dysfunktionalen föderalen Rechtsstatut der „konkurrierenden Gesetzgebung“ zwischen Bund, Ländern und Kommunen im Jahr 2025. „Bauwende“ und Bedarfsprüfung: die 10 Forderungen von Architects for Future A4F wollen gerade auch die Praktiken unserer Berufsstände neu aushandeln. Höchste Zeit dafür. Auch bei den Wahlen für die Vertreterversammlung der Architektenkammer im bevölkerungsreichsten und vom Strukturwandel geprägten Bundesland Nordrhein-Westfalen.
Der in Duisburg-Essen lehrende „Wirtschaftsweise“ Achim Truger plädiert am Ende seines Kommentars zum Jahresbericht der Wirtschaftsweisen 2025 auf Surplus für einen neuen „Soli“, den insbesondere Vermögende in der immer ungleicher werdenden Gesellschaft zahlen sollten. Aber: Der "Soli" impliziert für sich ja den Terminus "Solidarität" als einen der drei Grundpfeiler der Überwindung der feudalstaatlichen Ständeordnung insbesondere in der Französischen Revolution. Da das "Solidaritätsprinzip" paradigmatisch Gleichstellung und gleiche Gesinnung auf der Basis gleicher Werte voraussetzt, gehen wir hier von (derzeit nicht mehr) bestehenden (Verfassungs-) Ansprüchen und -wirklichkeiten aus. Auch im (all-) täglichen Umgang habe ich "Eliten" zuletzt nicht wirklich auf den Böden und Realitäten dieser "Solidaritätsprinzipien" agierend erlebt. Im Gegenteil: das Ständische hat da als Schismogenese, also als stetige Abgrenzung nach unten, gegenüber denen, die zu gehorchen haben und die überzogenen Sicherheitsbedarfe der Oberen bedingungslos und ohne Murren zu erfüllen haben allergrößte Priorität. Und das Verantwortungsgeschubse eigener (Verfahrens-) oder Kommunikationsfehler nach unten oder: dort, wo man unten bedingungslos verortet, bei den Vasallen also gehört auch zu den Prämissen der neuen Feudalordnung. Glücklich, wer sich da im Schutz seines Schreibtisches und seines Amtes verschanzen kann. Wie lange noch indes: das fragt sich insbesondere beim Blick über den Atlantik.
Auf der Strecke zwischen Timimoun und Béni Abbès, wo Bernardo Bertolucci auch 1990 den „Himmel über der Wüste“ mit der großartigen Kameraarbeit von Vittorio Storaro drehte, fanden Miloud und ich uns 1986 spät nachmittags irgendwann an einer Wegbiegung ca. 80 km vor unserem Zielort wieder. Kurz vor Sonnenuntergang kamen fünf LKW’s, die immer im Convoy wegen Wüstenräubern zudem feindlich gesinnter Stämme und anderer Unwägbarkeiten fuhren. Natürlich nahmen die Kollegen uns mit und teilten auch später das Abendessen mit uns. Es war ihnen und uns eine Ehre. Am Morgen, nach dem Schlafen auf dem Wüstenboden hatte ich dieses Bild vor mir. Auch in Wüsten gibt es weitaus mehr Leben als es jedem Mitteleuropäer auch nur annähernd bewusst ist. „Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt…“, wie Friedrich Nietzsche in seinen Dionysos Dithyramben sagt.
Übertragen auf die lateinamerikanische Atacama-Wüste und die Lithium- und Kupfergewinnung dort und den Extraktivismus nicht nur von Rohstoffen, auch von Arbeitskraft und mehr zwischen globalem Norden und globalem Süden 13, auf die Wasserversorgung der verdurstenden Stadt Kabul und die schleichende Vergiftung der ohnehin in Mike Davis‘ Slum Ökologie 14 gefangenen Stadt durch die Kupfergewinnung in Mes Aynak und vor dem Hintergrund von COP 30 in Belem im Schatten flächendeckender Grünwasch-Zertifizierungen und Enteignungen im „marktbasiertem Totalitarismus“ am Amazonas und die marktbasiert hausgemachte „Wohnungskrise“ hierzulande und mehr: WIR werden die Themen nur durch eine Öffnung gegenüber der Welt erreichen. Nicht aber, indem wir uns aus Angst vor „lustvoller Zerstörung“ und „lähmender allumfassender Unsicherheit“ in Schreibtischdebatten isoliert schützen. So wie es ja auch regierende Technokraten machen. Und damit Unsicherheit und Lust an der Zerstörung verstärken.
Die Kunst vermag dem Blick zu schmeicheln.
Sie löst Versprechen von ästhetischem Empfinden ein
Und darf ein Fragezeichen in den leeren Raum
Angefüllt mit lärmendem Schweigen hineinstellen.
Die Architektur vermag das gesprächige Schweigen
zu umhüllen und muss doch Antworten geben.
Ein Punkt indes genügt alle Male, der mit Linie
verknüpfte Ausruf obliegt den Priestern.
Die Musik lässt die Hülle schwingen führt als
Tanz in wolkige Lüfte dröhnt im Nachhall der Stimmen
Lässt den Saal erzittern und erbeben
Schwebt im Takt durch Höhen tief hinaus.
Das Wort trennt mit des Richters Schärfe
Unschuld Schuld von Schuld und Unschuld
Schneidet so der Zeiten schamvollen Lauf.
Man muss nicht ständig über die Menschen und ihren Verdruss sprechen. Und dann hinter dem Rampenlicht verschwinden. Zohran stellte sich an eine Ecke in seiner Hood am Big Apple und fragte. Immer und immer wieder. „Hast Du Trump gewählt? Warum?“ Die Spuren im Sand des Westlichen großen Erg bei Timimoun und viele andere Spuren des Seins und Werdens von Brüdern und Schwestern allerorten bewahrten mich davor, in diesen Verdruss zu fallen. Man muss mit den Menschen, mit Menschen und Dingen, aber vor allem mit den Menschen sprechen. Schwestern und Brüdern und mehr. Immer und immer wieder. Noch weiter, als etwa Maurice Höfgen das gemacht hat. In den Tiefen des Seins oder Nicht-Seins herrschen andere Wirklichkeiten. Von Politikern indes wünscht man sich bisweilen nur einen Bruchteil der Klarheit und Schärfe der Sprache eines Ferdinand von Schirach. Dieser Klarheit indes bedarf es auch in all ihren Ambivalenzen bei Gesprächen mit wirklichen und wahrhaftigen Menschen über ihre Sorgen und Nöte und wie dem abzuhelfen ist. Dann vermag man auch Täuschung und Fall ins Bodenlose von ihnen und von uns abzuwenden. Das müssen wir jetzt machen. Und weiter tun.
Anmerkungen